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29.05.10 / Mordlüsterne Medien übersehen steigende Gewalt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-10 vom 29. Mai 2010

Gastbeitrag
Mordlüsterne Medien übersehen steigende Gewalt
von Philip Baugut

Unbegreiflich, was in der Nacht zum 10. Juli 2006 in Cottbus geschieht: Der 19-jährige Steffen G. tritt einem Obdachlosen mit voller Wucht in den Rücken. Dieser stürzt eine Treppe herunter, liegt wehrlos am Boden, doch der Täter drischt weiter auf den Mann ein – bis er dessen Schädel zertrümmert hat. Ausführlich berichten die Medien über den bestialischen Mord. Schnell wird klar: Steffen handelte so wie wenige Stunden zuvor in seinem Killerspiel am Computer. „Ich war plötzlich ein anderer Mensch“, sagte er zu seiner Tat.

Die öffentliche Diskussion über solche Fälle weist ein typisches Muster auf: Dem Entsetzen über die Tat, die in aller Brutalität geschildert wird, folgt die krampfhafte Suche nach schnellen Konsequenzen. So geraten Killerspiele unter Beschuss. Verboten sind sie bis heute nicht, auch weil das Medieninteresse an dem Thema so schnell abebbt wie es entsteht.

Eines ist allzu menschlich: Die Bericht-erstattung über Morde macht Angst. In München fiel der Geschäftsmann Dominik Brunner an einem S-Bahnhof seiner Zivilcourage zum Opfer. Danach wurde auch über andere Gewalttaten im öffentlichen Nahverkehr berichtet – und plötzlich schienen Fahrten mit Bus und Bahn ris-kant. Doch was emotional besonders bewegt, muss noch lange keine große Gefahr sein. Denn entgegen der weit verbreiteten Meinung ist laut Kriminalstatistik die Zahl schwerer Gewalttaten (Mord, Raubmord, Sexualmord) in Deutschland seit den 1950er Jahren stetig zurückgegangen. So wurden 1987 noch 970 Morde im Jahr erfasst, 2009 waren es 703 Morde. Die relative Häufigkeit der Morde pro 100000 Einwohner sank somit auf 0,9. Deutlich zugenommen hat hingegen die Gewalt ohne Todesfolge. Wurden 1987 noch rund 200000 Fälle von Körperverletzung gezählt, waren es im Jahr 2008 gar 545000. Auch die Zahl der Fälle, in denen die Fürsorge- oder Erziehungspflicht verletzt wurde, stieg 2009 dramatisch, von 662 auf 1810.

Diese gegenläufigen Entwicklungen sind vor allem deshalb gefährlich, weil aufgrund der medialen Fixierung auf tödliche Verbrechen die zunehmende Gewaltbereitschaft unterhalb der Mordschwelle aus dem Blick gerät. „Wir konzentrieren uns zu sehr auf spektakuläre Einzelfälle und übersehen dabei die Zunahme der alltäglichen Gewalt“, kritisiert der renommierte Mainzer Publizistikwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger. Über die schwer zu ergründende Psyche eines Mörders wird in Medien gern ausladend philosophiert, während sich an Raubüberfällen auf Rentner keine öffentliche Diskussion entzündet.

Es ist verständlich, dass sich nicht nur Boulevardjournalisten wie Pawlowsche Hunde auf schockierende Fälle stürzen, die für einige Tage große Schlagzeilen versprechen. Auch die Sensationsgier des Publikums will befriedigt sein. Dennoch sollten sich die Häufigkeiten der unterschiedlichen Verbrechen in den Massenmedien einigermaßen widerspiegeln. Studien zeigen jedoch, dass diese über Morde weit überproportional berichten, während die Zunahme der übrigen Gewalt nicht abgebildet wird.

Wenn nur bei Morden über Gewalt dis-kutiert wird und Maßnahmen wie ein Verbot von Killerspielen als Allheilmittel erscheinen, dann werden die tieferen Ursachen von Gewalt ausgeblendet. Killerspiele sind wohl eher der Anlass als die Ursache von Morden, die denen in der virtuellen Computerwelt ähneln. Vielmehr müsste sich der Blick auf die Familie und andere Bezugsgruppen gefährlicher Jugendlicher richten, die sich nicht isolieren dürfen. Doch über den Werteverfall und andere Wurzeln von Gewalt lässt sich nicht so spektakulär debattieren wie über Horrorvideos und Killerspiele. Solche Ware ist über das Internet problemlos verfügbar, Verbote würden daran wenig ändern, so geboten sie auch erscheinen.  

Verbrechen in den Medien werden meist nicht einfach nachgeahmt, so verbreitet diese Vorstellung auch ist. Wenn Medienkonsum zu Gewalt führt, dann am ehesten zu den vernachlässigten Verbrechen unterhalb der Mordschwelle. Als Anfang der 1990er Jahre über die fremdenfeindlichen Anschläge in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen ausführlich berichtet wurde, kam es nur wenig später zu einer Flut fremdenfeindlicher Straftaten, die meisten davon aber weit weniger brutal. Offenbar hat die Berichterstattung gewaltbereite Personen ermutigt, ihrer Ausländerfeindlichkeit freien Lauf zu lassen.

Viele lechzen danach, es mit ihrer Tat in die Nachrichten zu schaffen. So war es auch bei Teilen der 68er-Bewegung und der RAF, die ihre Anschläge zeitlich so planten, dass sie noch in der Tagesschau vorkamen. Selbst im Bemühen um sachliche Information können Medien zum verlängerten Arm von Gewalttätern werden. Daher sind gerade Fernsehjournalisten in der Verantwortung, über Gewaltexzesse wie jene am 1. Mai möglichst nüchtern zu berichten. Bei solchen Fällen sollte eine Textmeldung genügen, mahnt Kepplinger. Denn kommunikationswissenschaftlich belegt ist die verheerende Wirkung von Bildern, welche die Folgen von Ausschreitungen zeigen und die Täter in ein mildes Licht tauchen, wie dies bei der Darstellung linksextremistischer Gewalt gelegentlich geschieht. Doch nicht einmal die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF haben in ihren Hauptnachrichten am 1. Mai auf spektakuläre Bilder von brennenden Gegenständen verzichtet. Anders als die heute-Sendung ließ die Tagesschau gar unerwähnt, dass in Hamburg Linksradikale ihr Unwesen trieben. Der Spagat zwischen Informationspflicht und Verantwortung für die Folgen der Berichterstattung ist hier gründlich misslungen.

Der Journalismus steckt freilich in einem Dilemma, an dem sein Publikum nicht unschuldig ist: Einerseits verspricht emotionale Berichterstattung mit schockierenden Bildern Aufmerksamkeit, die härteste Währung im Mediengeschäft. Andererseits handelt ein Journalist, der sich nicht um die Folgen seiner Arbeit schert, buchstäblich unverantwortlich. Aufgrund der Rundfunkgebühren ist von den Öffentlich-Rechtlichen ein Mindestmaß an Verantwortungsethik zu erwarten. Voraussetzung dafür ist ein größeres Interesse an den Befunden der Medienwirkungsforschung, die zugegeben nicht immer eindeutig sind. Dies rechtfertigt jedoch nicht deren Vernachlässigung, die dem Schielen auf Einschaltquoten geschuldet ist – bei RTL und Sat1 freilich viel stärker als bei ARD und ZDF.  

Die Wirkung der Massenmedien zu hinterfragen bedeutet, auch die Kontrolleure zu kontrollieren – ein neuralgischer Punkt, weil schmerzliche Selbstkritik nicht zu erwarten ist und sich kritischer Medienjournalismus schnell den Vorwurf der Nestbeschmutzung einhandelt (der Autor ist den Machern dieser Zeitung daher dankbar für diesen Beitrag). Weil sich der als Unterhaltung getarnte Konsum virtueller Gewalt kaum einschränken lässt, sollte die journalistische Darstellung von Gewalt mehr Aufmerksamkeit erhalten. Es liegt an der Medienlogik, dass die Berichterstattung über die Größe von Gefahren gewaltig täuscht. Deshalb sollten Journalisten die Häufigkeit jener Verbrechen erwähnen, die sie so drastisch schildern. Weniger emotionale Bilder und mehr nüchtern verpackte Statistiken wären ein erster Schritt auf dem Weg zu einem realistischen Gefahrenbewusstsein. Gerade die zunehmende alltägliche Gewalt unterhalb der Schwelle von Mord und Totschlag erfordert mehr Aufmerksamkeit. Oder haben wir uns daran schon gewöhnt? 


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