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26.06.10 / Erkenne deinen Nächsten / Nichtigkeiten versperren einem oft den Blick auf das Wesentliche

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-10 vom 26. Juni 2010

Erkenne deinen Nächsten
Nichtigkeiten versperren einem oft den Blick auf das Wesentliche

In der Mittagspause hatte Johann Schneider sich vor der Bauhütte auf eine Bank gesetzt. Das Rattern der Betonmischmaschine war verstummt. Matt schimmerte die Sonne durch herbstlichen Dunst. Er öffnete die Leinentasche und nahm eine Thermosflasche heraus, schraubte den Verschluss ab und goss heißen Kaffee in den Becher.

Während er den ersten Schluck trank, dachte er an die Auseinandersetzung mit Marie gestern Abend. Den Anlass zu dem Streit hatte er schon wieder vergessen. Aber es war, wie so oft, um eine Nichtigkeit gegangen. Er hätte heute Morgen eigentlich ein versöhnliches Wort zu seiner Frau sagen müssen. Aber es war ihm nicht über die Lippen gekommen.

Johann stellte den Becher beiseite und wickelte das belegte Brot aus dem Papier. Marie hatte es für ihn hergerichtet. Auch sie war stumm dabei geblieben. Als er sich mit einem gemurmelten „bis heute Abend dann“ von ihr verabschiedete, hatte sie nur kurz genickt.

Laute Stimmen in der Baubaracke lenkten Johann Schneider von seinen Gedanken ab. Immer wieder gibt es Streit, dachte er. Genauso wie zwischen Marie und mir.

Johann lehnte sich zurück und wärmte die Hände am heißen Kaffeebecher. Vor 23 Jahren hatten sie geheiratet. Die Zeit lief schnell dahin. Nichts war so geblieben, wie es einmal begann.

Er erinnerte sich noch genau daran, dass sie am Anfang ihrer Ehe viel miteinander gesprochen hatten. Einer hörte dem anderen aufmerksam zu. Auch das änderte sich. Allmählich nur, und ohne dass man es merkte.

Es war so, als ob die gemeinsame Sprache Wort um Wort verlor. Und schließlich achtete man auch da nicht mehr darauf, was der andere sagte. Ja – genauso war es. Immer wieder gab es Missverständnisse. Und daraus entstand der Streit.

Die aufgeregten Stimmen in der Bauhütte verstummten. Johann biss in das belegte Brot. Gewiss, Marie war eine gute Frau. Sie hatte die Kinder großgezogen und den Haushalt gewissenhaft versorgt. Nur schweigsam war sie geworden. Und manchmal sah sie ihn wortlos an. Mit einem Blick, der sich schwer deuten ließ. Nicht vorwurfsvoll – eher wie eine stumme Frage. Wie man jemand ansieht, der einem fremd geworden ist.

Daran hatte Johann Schneider gedacht, als er heute morgen zur Baustelle fuhr. Gleichzeitig aber war auch ein anderer Gedanke da: Hatte er Marie eigentlich jemals dafür gedankt, dass sie immer für ihn da war? Dass sie jeden Morgen früher aufstand als er, um ihm einen längeren Schlaf zu gönnen? Pünktlich hielt sie das Essen bereit, wenn er müde und abgespannt nach Hause kam. – Hätte er ihr nicht einmal zu verstehen geben müssen, dass er sie immer noch gern hatte?

Manchmal, wenn er an einem Blumenladen vorbei kam, war er vor dem Schaufenster stehen geblieben. Doch er hatte sich nicht dazu entschließen können, hineinzugehen. Es erschien ihm zu komisch, der eigenen Frau nach so langer Ehe Blumen mit nach Hause zu bringen.

Johann verschloss die Thermosflasche und legte sie in die Tasche zurück. Als er aufstand, fiel sein Blick aufs Nachbargrundstück. Das alte Haus dort drüben war baufällig und sollte abgerissen werden. Im Vorgarten überwucherte hoch schießendes Gras die Farbtupfer eines verwilderten Blumenbeetes.

Johann zögerte. Doch dann ging er über den Bauplatz zur Lücke im herunter gebrochenen Zaun. Den buschigen Strauß gelber und lila Blumen, den er pflückte, wickelte er sorgfältig in eine Zeitung ein. Die Kollegen waren neugierig. Was hätte er auf ihre Fragen antworten sollen? Die Wahrheit wäre bei ihnen auf Unverständnis, vielleicht sogar auf Spott gestoßen.

Marie stand am Herd, als ihr Mann heimkam. Er legte die noch in Papier eingewickelten Blumen auf den Küchentisch.

„Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte er, ein wenig unbeholfen. Dann ging er ohne weitere Erklärung ins Wohnzimmer und blieb am Fenster stehen.

Als Marie die Tür öffnete, drehte er sich um. Sie hatte die Herbstblumen in einer Vase zum bunten Strauß geordnet. Ihre Wangen waren vor Freude gerötet.

 „Ich danke dir“, sagte sie leise und lächelte.

Wie ein junges Mädel sieht sie aus, dachte Johann Schneider. Und erstaunt erkannte er, wie leicht es war, Glück zu schenken. Wortlos ging er auf Marie zu und nahm sie in seine Arme.   Albert Loesnau


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