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26.06.10 / »Nicht fliehen, sondern stehen« / Erinnerungen des Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-10 vom 26. Juni 2010

»Nicht fliehen, sondern stehen«
Erinnerungen des Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck

Die Amtsbezeichnung „Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ ist korrekt, doch auch recht lang. Bald nach der Errichtung im Jahre 1990 wurde die Institution fast nur noch als „Gauck-Behörde“ bezeichnet. Dies ist sicher nicht nur der übersichtlicheren Begrifflichkeit zu verdanken, sondern vor allem dem Charisma des ersten Leiters, Joachim Gauck. Sogar um ein Wort hat er die deutsche Sprache der 90er Jahre inoffiziell bereichert: Als „gegauckt“ galt jemand, der wegen früherer Mitarbeit beim DDR-Spitzeldienst entlassen worden war.

Gauck, der „seiner“ Behörde zehn Jahre lang vorstand, sich in dieser Zeit einen Namen als konsequenter Stasi-Aufklärer machte und vehement jeglichen Schlussstrich-Bestrebungen entgegentrat, hat seine „Erinnerungen“ „Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen“ aufgeschrieben. Wären sie nicht bereits vor seiner Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten erschienen, so könnte man vermuten, bei dem Buch handle es sich um ein Bewerbungsschreiben für diese Position. Mit seiner hier erzählten Lebensgeschichte, seinen Erfahrungen und seinen daraus gewonnenen Ansichten empfiehlt er sich.

Typisch war der Weg des 1940 in Mecklenburg geborenen Gauck für die DDR sicher nicht. Schließlich war die Familie, spätestens seitdem sein Vater unter abstrusen Anschuldigungen 1951 für vier Jahre nach Sibirien verschleppt worden war, dem System gegenüber äußerst ablehnend eingestellt. Gauck blieb jedoch in seiner Heimat, er wollte zu denen gehören, „die nicht fliehen, sondern stehen“. Evangelischer Pfarrer wurde er, zunächst, weil es für ihn unter DDR-Bedingungen keine andere Studienmöglichkeit gegeben hätte, aber dann ging er doch ganz in diesem Beruf auf.

Gaucks Schilderungen sind natürlich mit persönlichen Erlebnissen verbunden, zeigen jedoch auch exemplarisch das Leben unter der zweiten deutschen Diktatur. Es war ein politisches System, in dem Grundschullehrer Sechsjährige vor die Klasse zitierten und deren von den Eltern vermittelten christlichen Glauben verhöhnten, ein politisches System, das einen sagenhaften Überwachungsapparat installierte, ein politisches System, dem viele Menschen den Rücken kehrten, weil sie hier keine Zukunft mehr sahen. Über Gauck vermerkte der Staatsicherheitsdienst mit einem gewissen Respekt, er sei ein „unbelehrbarer Antikommunist“.

„Frühling im Herbst“ wurde es 1989. Gauck spricht wohltuend klar aus, was es war: eine Revolution. Früh war er für die Wiedervereinigung, was nicht allen in der Bürgerbewegung Engagierten behagte. Mit der Übernahme seines Amtes als Sonderbeauftragter für die Stasi-Unterlagen  wurde er einer großen Öffentlichkeit bekannt. In den „Erinnerungen“ erhält man Einblicke in den  Aufbau der Behörde, Gaucks Überlegungen zum Umgang mit den Akten und die Verworrenheit der Stasi-Angelegenheiten. Das betrifft beispielsweise die letztlich nicht ganz geklärten Vorgänge um Manfred Stolpe. Gaucks Behörde jedenfalls gelangte zu dem Schluss, Stolpe sei ein wichtiger IM gewesen.

Die Hochschätzung der Freiheit, die Wertschätzung des Rechtsstaates – es hätte nicht unbedingt noch einmal des expliziten Credos am Ende des Buches bedurft, der Grundtenor geht auch aus den geschilderten Episoden klar hervor. Gauck selbst bezeichnet sich gern als „reisenden Demokratielehrer“ und als „linken, liberalen Konservativen“. Dies mag ein wenig Koketterie sein.  Seine Biographie zeigt jedoch, warum eine aufrechte Persönlichkeit wie Gauck breite Zustimmung, auch über Parteigrenzen hinweg, findet und sich DDR-Nostalgiker niemals mit ihm anfreunden werden. Erik Lommatzsch

Joachim Gauck: „Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen“, Siedler, München 2009, gebunden, 349 Seiten, 22,95 Euro


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