29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
03.07.10 / Die Muskeln spielen lassen / Anatomie und Kunst: Eine Ausstellung in Gotha geht unter die Haut

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-10 vom 03. Juli 2010

Die Muskeln spielen lassen
Anatomie und Kunst: Eine Ausstellung in Gotha geht unter die Haut

Bilder und Skulpturen illustrieren die Geschichte der medizinischen Anatomie und den Einfluss der Medizin auf die künstlerische Darstellung des Menschen. Zu sehen ist das nun in einer Ausstellung in Gotha.

Reichlich makaber lässt eine von Jean-Antoine Houdon 1767 geschaffene Skulptur die Muskeln spielen. Damit diese gut studiert werden können, ist dem lebensgroßen Muskelmann nämlich die Haut abgezogen. Um dieses Meisterwerk zu formen, hatte der Bildhauer Anatomieunterricht bei einem berühmten Chirurgen und Leichenöffner genommen. Alles überragend, steht der Enthäutete hoch aufgesockelt in der Mittelachse des Wechselausstellungssaals von Schloss Friedenstein in Gotha. Mit vorgestreckter Hand scheint Houdins berühmtes Glanzstück der Anatomie und Kunst gewidmeten Schau seinen Segen zu erteilen. Rund 150 Bilder und Skulpturen, wissenschaftliche Instrumente und anatomische Präparate des 16. bis 19. Jahrhunderts sind aufgeboten.

Im Mittelalter hatte der Klerus das Sezieren von Leichen verboten, da es die unversehrte Auferstehung des Fleisches gefährde. Im 15. Jahrhundert jedoch erteilten die Päpste Sixtus IV. und Clemens VII. deratigen anatomischen Studien ihre Erlaubnis. Bedeutendster Pionier der wissenschaftlichen Sektion war Andreas Vesalius, der in Padua einen Lehrstuhl für Chirurgie besaß. Sein 1543 erschienenes anatomisches Lehrbuch ist mit Holzschnitten illustriert, die Mitarbeitern von Tizian zugeschrieben werden. Dazu erklärt Ausstellungskuratorin Uta Wallenstein: „In der Frühzeit der modernen Anatomie gab es eine sehr enge Zusam-menarbeit von Anatomen und Künstlern, die oftmals selbst intensive anatomische Forschungen be-trieben.“

Rund um das Lehrbuch von Vesalius wartet die Schau zum Auftakt mit anatomischen Modellen und Präparaten auf. Äußerst kunstvoll nehmen sich die drei von Stephan Zick geschaffenen Elfenbeinstatuetten ei-ner liegenden schwangeren Frau (um 1875) aus, deren Brustkorb und Bauch zur Betrachtung des Innenlebens abnehmbar sind. Das lebensgroße Wachsmodell eines Rumpfes (18. Jh.), im Auftrag von Kaiser Joseph II. in Florenz hergestellt, lädt zum Studium der Schlagadern ein. Eindrucksvoller noch – und eine große Rarität obendrein – ist das in Paris angefertigte und 1723 für die Herzogliche Sammlung von Gotha erworbene anatomische Trockenpräparat der Muskulatur eines Mädchens. Dass das Öffnen von Leichen zeitweise ein öffentliches Ereignis war, veranschaulicht uns die Abteilung „Anatomisches Theater“. Diese auch „Zergliederungshaus“ genannten Einrichtungen wiesen nach dem Vorbild des Amphitheaters ansteigende Zuschauerränge auf. In der Mitte stand auf der Schaubühne der Seziertisch. Dem Kupferstich (um 1590) nach zu urteilen, der das Anatomische Theater von Leiden zeigt, müssen die Sektionen eine ziemlich gruselige Veranstaltung gewesen sein. Zur dargestellten Ausstattung gehören Knochenmänner, die auf Pferdeskeletten reiten. Und zwischen den Besuchern stehen auf Podesten menschliche Skelette, die Fahnenstangen halten. Die Aufschriften der Fahnen mahnen zur Demut eingedenk der Endlichkeit des Lebens. Auf einer steht „Homo Bulla – der Mensch ist wie eine Seifenblase“. Auf einer anderen heißt es „Memento Mori – Gedenke des Sterbens“.

Die umfangreiche abschließende Sektion ist dem Verhältnis von Anatomie und Kunst gewidmet. Pietro Francesco Albertis Radierung „Malerakademie“ (Anfang 17. Jh.) zeigt, dass das Studium des menschlichen Körpers zu den Grundlagen der künstlerischen Ausbildung gehörte. Albertis Malerakademie ist mit Gipsabgüssen als vorbildlich erachteter antiker Statuen, aber auch mit einem Skelett ausgestattet – und rechts im Hintergrund wird unter den Augen der Kunstschüler eine Leichenöffnung vorgenommen. Ein beliebtes Studienmodell waren auch Gliederpuppen. Zwei kleine Prachtexemplare sind ausgestellt. Der im Umkreis des Meisters IP aus Lindenholz geschaffene Gliedermann und seine Frau (um 1525) können dank Kugelgelenken und einem Mechanismus aus Darmsaiten so ziemlich alles an sich, ja selbst die Fingerspitzen und Zehen bewegen.

Die künstlerischen Früchte der gründlichen anatomischen Studien sind rund um Houdons Muskelmann aus Gips zu bewundern, der wie eine antike Statue posiert – aber eben ohne Haut. So hält es auch Gabriel Grupello, der in Bronze das Martyrium des heiligen Bartholomäus anatomisch exakt wiedergibt: Wehklagend präsentiert die Skulptur (um 1710) des Heiligen in der rechten Faust die ihm abgezogene Haut. Andere Darstellungen zeigen den unversehrten Menschen. So wartet Albrecht Dürer mit seinem berühmten Kupferstich von „Adam und Eva“ (1504) auf. Auch Conrat Meit hat sich des ersten Menschenpaares angenommen: An seinen beiden anmutigen Holzstatuetten (um 1510) fasziniert die mit sinnlicher Note versehene detaillierte Wiedergabe der Körperoberfläche. Veit-Mario Thiede

Die Ausstellung „Anatomie“ ist bis 24. Oktober dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr in Schloss Friedenstein, Gotha, zu sehen. Der Katalog aus dem Deutschen Kunstverlag kostet in der Ausstellung 19,80 Euro, im Buchhandel 24,90 Euro.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren