19.04.2024

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10.07.10 / Gesundheitsreform von unten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-10 vom 10. Juli 2010

Gesundheitsreform von unten

Nein, am deutschen Gesundheitswesen wird die Welt nicht genesen. Das soziale Fürsorgesystem Bismarck’scher Prägung, einst weltweites Vorbild, ist für die völlig neuen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft mit immer weniger Beitragszahlern und immer mehr Leistungsempfängern nicht mehr tauglich. Dies gilt für Krankheitskosten ebenso wie für die Renten.

Dass dieses System dringend der Reform bedarf, hat sich auch in Politikerkreisen herumgesprochen. Deren Reaktion bestand zumeist aber nur aus kleinkariertem Stückwerk – man denke an „Ulla Schmidts tägliche Gesundheitsreform“. Deren einzig erkennbare Konstante hieß „Alles wird teurer“.

Im Herbst 2009 hatten Union und FDP nicht zuletzt mit dem Versprechen einer echten Gesundheitsreform die Wahl gewonnen. Auf das Einlösen der vollmundigen Ankündigungen wartet das Volk seither vergebens. Stattdessen wird ihm nach achtmonatigem Koalitionsstreit als bislang einziger Reformschritt eine Beitragserhöhung um 0,6 Prozentpunkte (plus Zusatzbeiträge) präsentiert.

Zumindest in Bayern hat das Volk die Sache nun selbst in die Hand genommen. Denn das überdeutliche Votum für einen konsequenten Nichtraucherschutz ist ein Stück „Gesundheitsreform von unten“: Im Gegensatz zu manchen herumlavierenden Politikern haben die Wähler erkannt, dass man das hochgradig gefährdete System nur dann wieder finanzierbar machen kann, wenn man es von milliardenteuren unnötigen, weil selbstverursachten Erkrankungen wie den Folgen der Nikotinsucht entlastet. Jede Zigarette, die nicht geraucht wird, ist ein Beitrag dazu.      H.J.M.

 

Zeitzeugen

Philipp Rösler – Der 37-Jährige wurde im Herbst 2009 Bundesgesundheitsminister und tritt für eine umfasssende Reform mit einer Kopfprämie nach Schweizer Vorbild ein. Er konnte sich aber innerhalb der  schwarz-gelben Koalition damit gegen die CSU bislang nicht durchsetzen.

Ulla Schmidt – Die SPD-Politikerin war von 2001 bis 2009 Gesundheitsministerin. Die Einführung des Gesundheitsfonds ist ihr Projekt. Schon vor Beginn der Einführung hatten Kritiker gewarnt, dass der am 1. Januar 2009 mit dem Einheitsbeitrag von 15,5 Prozent gestartete Fonds unterfinanziert sei. Doch die Große Koalition war wegen der anstehenden Bundestagswahl nicht bereit, den Beitrag heraufzusetzen. Stattdessen wurde er wegen der Finanzkrise im Sommer 2009 sogar auf 14,9 Prozent gesenkt.

Horst Seehofer – Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende, geboren 1949 in Ingolstadt, lehnt die vom Bundesgesundheitsminister – und zumindest zeitweise auch von Angela Merkel – favorisierte Kopfpauschale entschieden ab. Dieses Thema ist ihm so wichtig, dass er ihretwegen 2004 sogar als Unions-Fraktionsvize zurücktrat. Sein Votum hat in dieser Frage zusätzliches Gewicht, weil dem ehemaligen Bundesgesundheitsminister (1992−1998) Sachkunde nicht abgesprochen werden kann.

Otto von Bismarck – Der Reichskanzler (1815−1998, Amtszeit von 1871−1890) gilt als „Vater“ des deutschen Sozialstaates. 1883 führte er die Krankenversicherung ein, 1884 die Unfallversicherung, und ab 1889 wurden die Arbeitnehmer erstmals gesetzlich gegen die Folgen von Alter und Invalidität abgesichert. Die Motivation des „Eisernen Kanzlers“ war offenbar eine Kombination aus aufrichtigem, christlich inspiriertem sozialen Verantwortungsbewusstsein und politischem Kalkül, um der aufstrebenden Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Um Bismarcks zukunftsweisende Sozialpolitik richtig zu würdigen, muss man in andere Länder schauen: Während er seine Sozialversicherungsgesetze schuf, hatten die als „Musterdemokratie“ gerühmten USA gerade erst seit ein paar Jahren die Sklaverei abgeschafft.


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