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24.07.10 / Vom Bürgertum entdeckt / Kindererziehung im Wandel der letzten 150 Jahre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-10 vom 24. Juli 2010

Vom Bürgertum entdeckt
Kindererziehung im Wandel der letzten 150 Jahre

Das derzeitige Bild vom Kind, das die aktuelle Ratgeberliteratur zeichnet, hat die Historikerin Miriam Gebhardt in einer Untersuchung mit jenem der Vergangenheit verglichen. Ihre Erkenntnisse hat die Privatdozentin an der Universität Freiburg in „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen – Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert“ zusammengestellt. Deutlich schildert sie den Wandel in der Kindererziehung.

Gebhardt weist nach, dass mit dem Sinken der Kinderzahl der Blick auf die Art der Kindererziehung zunahm. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erkannten Wissenschaftler erstmals, wie wichtig die Sozialisation der Kinder schon in jungen Jahren sei. Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Alter, ab welchem die Prägung zu beginnen habe, immer weiter nach vorn verlegt.

Stück für Stück erhöhte sich das medizinische und pädagogische Gebrauchswissen. Immer mehr Ärzte spezialisierten sich auf Kindermedizin. Gehörten zuvor viele Kinder zum Familienalltag, entschied man sich im Bürgertum nun für nur wenige Kinder, die man nach eigenem Menschenbild erzog. War Erziehung zuvor Frauensache gewesen, übernahmen mit der Verwissenschaftlichung immer mehr bürgerliche Väter die konzeptionelle Führung.

Dominiert habe Ende des 19. Jahrhunderts noch die negative Erziehung, also die Vermeidung schlechter Einflüsse auf den natürlichen Gang der Entwicklung. Mutterliebe war gut und schön, doch immer öfter wurde auch nach mütterlicher Autorität gefragt, denn nur so konnte das Kind auf den richtigen Weg gebracht werden. Auch sollte die neue Mutter alles über Bakterien, Infektionen, Kinderkrankheiten und Ernährung wissen. Gab es zuvor noch keine fixen Zeitvorgaben für die Ernährung des Säuglings, rückten diese als Erziehungsmittel ins Blickfeld. Durch feste Zeiten wollte man dem Nachwuchs Disziplin beibringen. Körperkon-takt war verpönt, lückenlose Kontrolle angeraten und Schmerzabhärtung erwünscht. Erziehungsziele waren gute Umgangsformen, Disziplin, Sauberkeit und Folgsamkeit. Schläge als Erziehungsmittel waren selbstverständlich.

Ende der 1950er Jahre schwappten die Erziehungstheorien des US-Kinderarztes Benjamin Spock über den großen Teich nach Deutschland. Für die konservativen Kreise waren seine Ideen einer liberalen und psychologischen Erziehung der Beginn des Verfalls von Disziplin und Moral. In den 70er und 80er Jahren dominierten Theorien, die auf denen von Spock aufbauten. Neu war eine bewusste Hinterfragung der Geschlechterrollen. Auch wurde die tägliche Pflege nicht mehr nur als Aufgabe der Mutter gesehen. Feminismus, Psychologisierung, Geschichtsverarbeitung, die 68er, eine antiautoritäre Grundhaltung samt Individualisierung: Dies alles waren neue Komponenten, die in die Erziehungsrichtlinien mit einflossen.

Gebhardts Untersuchungen enden in den 90er Jahren. Sie geht nicht darauf ein, dass man derzeit die verschiedensten Theorien nebeneinander finden kann.      Bel


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