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24.07.10 / Bunte Vielfalt ist noch keine Integration / In Istanbul, der Europäischen Kulturhauptstadt 2010, werden Gegensätze zwischen Ost und West deutlich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-10 vom 24. Juli 2010

Bunte Vielfalt ist noch keine Integration
In Istanbul, der Europäischen Kulturhauptstadt 2010, werden Gegensätze zwischen Ost und West deutlich

Istanbul, das alte Konstantinopel, ist eine der Europäischen Kulturhauptstädte 2010. Gebaut an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien vermittelt Istanbul überraschende Gegensätze von Orient und Okzident, von West und Ost.

Anders als im Ruhrpott, der sich in diesem Jahr neben Fünfkirchen (Pécs) ebenfalls mit diesem Titel schmücken darf, fällt es dem Touristen in der Metropole am Bosporus leichter, die „Kultur“ zu entdecken. Genauer gesagt, die verschiedenen und gegensätzlichen Kulturen. Das liegt zum einen an der Geschichte dieser Stadt. Über 1000 Jahre regierten hier die christlich-orthodoxen Kaiser und prägten die byzantinische Kultur. Sie wurden 1454 von den Herrschern des Osmanischen Reiches weitgehend unblutig abgelöst. Erst vor knapp 90 Jahren gelangten die „Jungtürken“ unter Kemal Atatürk an die Macht und vertrieben sofort und brutal über eine Million christlicher Griechen aus dem Land. Seitdem zeigen sich diese sogenannten Laizisten intolerant gegenüber allen nationalen Minderheiten und nicht-islamischen Religionen.

So wird die Zahl der Christen in diesem Stammland des Christentums Jahr für Jahr geringer. Über 2500 Moscheen stehen allein in Istanbul, aber nur noch 40 Kirchen. 98 Prozent der Bevölkerung sollen, offiziellen Statistiken zufolge, zur muslimischen Religion gehören. Ob man daher heute in Istanbul von einer gelungenen Integration von westlicher und östlicher Kultur, von Christentum und Islam sprechen kann, bleibt zweifelhaft. Obwohl der Tourist auf die Reste christlicher Kultur trifft, wohnt der Patriarch von Konstantinopel, einst eine ähnlich bedeutungsvolle Person wie der katholische Papst in Rom, in einem kleinen Haus und darf sich noch nicht einmal im Ornat auf der Straße zeigen. Schon das öffentliche Tragen von Kreuzen ist verboten; Kopftücher und Schleier tragende Frauen sind von den Behörden zumindest geduldet. Um die Ansicht der Behörden kümmern sich freilich die Istanbuler schon aus Tradition recht wenig. Junge Frauen gehen ab Ende Februar leichtbekleidet umher und zeigen viel Haut. Die Stadtschönheiten zeigen sich im gediegenen Viertel Nisantasi, wo neuerdings Gucci- und Tod’s-Boutiquen, Bult-haupt-Küchenstudios und Bang & Olufsen-Showrooms zu besichtigen sind. Die Istanbuler haben übrigens Übung darin, die Anweisungen der Behörden zu missachten. Schon im 17. Jahrhundert ließen sie sich nicht vom Rauchen abhalten, obwohl Sultan Murad IV. den Rauchern mit dem Galgen drohte. So findet auch das seit 2009 geltende Rauchverbot in Lokalen wenig Beachtung.

Dass das feingemachte Istanbul bei betuchten Reiselustigen hoch im Kurs steht, liegt aber nicht nur an seinen Boutiquen. Die „New York Times“ setzte die Stadt wegen der florierenden Kunstszene auf ihre diesjährige Liste der beliebtesten Orte. Tatsächlich melden die Galeristen einen regelrechten Ansturm ausländischer Sammler auf zeitgenössische türkische Malerei.

Auch Orhan Pamuk, Nobelpreisträger und derzeit wohl bekanntester Istanbuler, trägt zum Ruhm seiner Heimatstadt bei. Er verbrachte seine Kindheit in Nisantasi. Seine bourgeoise Großfamilie belegte alle fünf Stockwerke eines weitläufigen Anwesens. Heute allerdings könnte sich selbst ein Nobelpreisträger dort kaum mehr eine Immobilie kaufen, denn seit Jahren explodieren die Preise in Istanbul.

Fast jeder der sieben Millionen jährlichen Touristen beschreibt die orientalische Dimension dieser Stadt als faszinierend. Ähnlich wie im libanesischen Beirut oder dem syrischen Damaskus schlägt dem Besucher das volle Leben des Orients, die Welt der Basare und des Feilschens entgegen. So mischen sich Sprachen, Völker, Künste und Mentalitäten in reicher Form. Daraus entsteht zwar kein Zusammenleben von östlicher und westlicher Kultur, aber wohl ein größeres Miteinander als anderswo auf der Welt. Istanbuls kulturelle Vielfalt basiert letztendlich auf der sprachlichen Vielfalt von diversen Nationen, welche die Stadt seit Jahrhunderten bewohnen. Noch vor 40 oder 50 Jahren war dies wesentlich ausgeprägter als heute. Im Stadtteil Kuledibi, das früher ein ausschließlich jüdisches Viertel war, hörte man damals neben Türkisch fast nur das Ladino, die Mundart der Sepharden. Im Stadtteil Kurtulus sprach man außer Türkisch überwiegend Griechisch und zum Teil auch Armenisch. Auch Fener auf der anderen Seite des Bosporus, wo das Ökumenische Patriarchat seinen Sitz hat, war ein griechisches Quartier. Dagegen galten Samatya oder Bakirköy als griechisch-armenische Stadtteile. Als Schmelztiegel dieses Sprachgewirrs gilt seit jeher die Istiklal Straße, die zentrale Einkaufsstraße und Promenade im Stadtteil Beyoglu. Doch damit ist es weitgehend vorbei. Die 13-Millionen-Metropole ist zwar immer noch ungemein vielfältig, aber eben auch „monokulturell“ türkisch.

Wie ein glitzerndes Band schlängelt sich der Bosporus durch die Stadt und lockert so die Betonwüste der Metropole auf. Die Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer gibt der Stadt Flair und Weite. Die Schiffstour über den Bosporus gilt für Touristen und Einheimische gleichermaßen als Höhepunkt eines Besuches oder entspannende Unterbrechung des Arbeitslebens. Schwierigkeiten haben die Stadtväter allerdings mit der Fertigstellung des Bosporus-Tunnels. Dort liegen tonnenweise antike Steine im Weg. So gerät das Tunnel-Projekt, das die immense Verkehrsnot der rasch weiterwachsenden Metropole lindern würde, immer wieder ins Stocken. Beim Tiefbau stieß man auf eine ganze byzantinische Hafenanlage samt kompletten Schiffen und Frachtladungen. Diese kulturellen Schätze müssen nun erst einmal geborgen werden.    Hinrich E. Bues


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