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31.07.10 / »Unabhängigkeit ist nicht verboten« / Haager Gerichtshof über den Kosovo – Konflikt zwischen Selbstbestimmung und territorialer Integrität

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-10 vom 31. Juli 2010

»Unabhängigkeit ist nicht verboten«
Haager Gerichtshof über den Kosovo – Konflikt zwischen Selbstbestimmung und territorialer Integrität

Unter welchen Umständen dürfen Minderheitengebiete sich von ihrem bisherigen Staat lösen? Diese Schlüsselfrage des Völkerrechts stand unausgesprochen im Mittelpunkt der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag über die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.

Mit zehn gegen vier Stimmen hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag vor wenigen Tagen die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom Februar 2008 für völkerrechtskonform erklärt. Das Gutachten ist im Unterschied zu den Urteilen des IGH nicht bindend, wobei allerdings manche IGH-Gutachten später durch Beschlüsse von Uno-Gremien Verbindlichkeit bekamen.

Das Gutachten, so hoffen jedenfalls die Verantwortlichen in der kosovarischen Hauptstadt Pristina, sollte den Durchbruch für die diplomatische Anerkennung des zu über 90 Prozent von Albanern bewohnten 1,8-Millionen-Kleinstaates bringen. Bisher haben erst 69 der über 180 unabhängigen Staaten der Welt den Kosovo anerkannt, selbst von den 27 EU-Staaten verweigern noch fünf die Anerkennung. Auch der Uno gehört das Land bis auf weiteres nicht an, weil Russland und China zu den Gegnern der Eigenständigkeit der Region gehören und als Veto-Mächte im Sicherheitsrat die Aufnahme des Kosovo verhindern. Die Uneinigkeit der Uno ist insofern etwas bizarr, als die Unabhängigkeitserklärung vom Februar 2008 das Ergebnis des vom UN-Sondergesandten und Friedensnobelpreisträger Martti Ahtisaari gefundenen Ausgleichs darstellt. Der 1937 geborene finnische Politiker, dessen Familie 1940 vor der angreifenden Sowjetunion aus der Stadt Vyborg fliehen musste und dadurch ihre Heimat verlor, schlug Anfang 2007 eine „international überwachte Unabhängigkeit“ der Region vor, wobei die Völkergemeinschaft insbesondere auch die Rechte der in der Region lebenden serbischen Volksgruppe zu schützen hat. Nach jahrzehntelanger Drangsalierung der Kosovo-Albaner durch Serben, deren Höhepunkt die Vertreibung im Frühjahr 1999 war, gab es nach der Rückkehr der Albaner Vergeltungsakte, die die Völkergemeinschaft allerdings ebensowenig hinnehmen wollte wie zuvor die Vertreibung der Albaner.

Das jetzige Gutachten des IGH bewegt sich in einer besonders heiklen Zone der Mehrdeutigkeit des Völkerrechts. Das internationale Recht betont einerseits das Recht auf territoriale Integrität der Staaten. Selbst nach verlorenen Kriegen sind Annexionen regelmäßig nicht erlaubt, dies gilt sogar dann, wenn der besiegte Staat den Krieg begonnen hat. Andererseits gehört auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu den obersten Prinzipien des Völkerrechts, seit 1966 hat es sogar den Rang eines unveräußerlichen, „zwingenden“ Recht (ius cogens).

Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts fast immer die territoriale Unversehrtheit eines Staates verletzt − im Falle des Kosovo diejenige Rest-Jugoslawiens beziehungsweise Serbiens. Es ist deswegen kein Zufall, dass innerhalb und außerhalb Europas genau diejenigen Länder die Anerkennung des Kosovo verweigern, die selbst ähnliche Abspaltungen befürchten: China sorgt sich um Tibet, Ost-Turkestan und die Innere Mongolei, Russland um Tschetschenien und etliche weitere Gebiete, Spanien um das Baskenland und Katalonien, die Slowakei um den ungarisch besiedelten Süden des Landes, Rumänien um Siebenbürgen und so weiter.

Oft ist die Argumentation der Diplomaten widersprüchlich:

Moskau hält in der Kosovo-Frage „in Treue fest“ zu Belgrad − offenkundig mit Blick auf Tschetschenien. Allerdings betreibt es selbst gegenüber Georgien eine Politik der Anerkennung von Minderheitsgebieten. Auch die slowakische Politik ist nicht ganz stimmig: Das Land ist schließlich selbst erst seit 1993 ein unabhängiger Staat, nachdem es sich von der Tschechoslowakei losgesagt hatte. Hier würde jeder slowakische Politiker einwenden, der Unterschied bestehe darin, dass die damalige Trennung von den Tschechen einvernehmlich geschehen sei.

Das stimmt zwar unbestreitbar, doch damit ist ein weiterer bis heute nicht klar definierter Punkt des Völkerrechts angeschnitten: Steht das Selbstbestimmungsrecht der Völker gleichsam unter Genehmigungsvorbehalt dessen, der davon Nachteile hätte?

Serbien hat im Vorfeld der jetzigen Entscheidung so argumentiert, indem es erklärte, die Kosovo-Resolution des UN-Sicherheitsrates vom Juni 1999 lege die Mitglieder der Uno auf die territoriale Integrität (Rest-) Jugoslawiens fest. Der IGH hat dazu nun festgestellt, dass diese Resolution die Bewohner des Kosovo nicht an der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts hindern könne − das Völkerrecht kenne „kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen“. Damit hat der IGH nicht nur die Balance zwischen Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität vorsichtig neu justiert. Er hat auch berücksichtigt, dass bereits durch die − von Belgrad akzeptierte − Unabhängigkeit Montenegros im Sommer 2006 der territoriale Status quo Jugoslawiens des Jahres 1999 überholt ist.

Bei der damaligen, relativ knappen Entscheidung der Montenegriner hat eine Rolle gespielt, dass die EU kleine Staaten bevorzugt: Bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament und in der Kommission, bei den Stimmrechten in Brüssel und zumindest indirekt auch finanziell. Brüssel setzt also genau die Anreize zur Kleinstaaterei, die dann die EU so unbeweglich machen.

Es ist zweifellos ein Grund dafür, warum gerade die deutsche Politik seit Jahren betont, die Unabhängigkeit des Kosovo sei eine völlige Ausnahme, die für keine andere Region innerhalb und außerhalb der EU einen Präzedenzfall darstelle. Doch unterdrückte Minderheiten gibt es viele in der Welt, von den Kurden bis zu den Tibetern. Worin soll die Einzigartigkeit bestehen? In der kurzzeitigen Vertreibung der Kosovo-Albaner im Frühjahr 1999? Die Tschetschenen haben allerdings dasselbe erlebt, bei ihnen dauerte die Vertreibung sogar länger. Auch würde diese Bewertung eine sehr grundsätzliche Verurteilung von Vertreibungen voraussetzen, von der die bundesdeutsche Politik in anderen Fällen nicht zuletzt in ost- und sudetendeutscher Sache wenig erkennen lässt. Fazit: Ob eine Nation oder Volksgruppe ihre Unabhängigkeit erhält und damit Grenzen verändert werden, ist und bleibt eine Machtfrage. Konrad Badenheuer


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