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28.08.10 / Die Kirche blutet aus / Keine Strategie gegen den Schwund – Appell zu mehr »geistlicher Profilierung« verpufft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-10 vom 28. August 2010

Die Kirche blutet aus
Keine Strategie gegen den Schwund – Appell zu mehr »geistlicher Profilierung« verpufft

Der evangelischen Kirche in der Mark laufen Jahr für Jahr über 10000 Mitglieder weg – zusätzlich zum Verlust durch den Bevölkerungsrückgang. Doch für die Austrittsgründe interessiert sich die Kirchenleitung kaum.

Die Zahl sorgte für Furore. In der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, ihr gehören rund 646000 Berliner an, sei die Zahl der Austritte erneut gestiegen – um mehrere Tausend binnen Jahresfrist. So meldeten es jedenfalls Berliner Medien. Doch die Zahlen seien falsch, sagt die Landeskirche: Sie selbst habe Daten falsch weitergegeben. Das Missverständnis ist jedoch kein Grund zum Aufatmen, denn niemand streitet ab, dass die Austrittswelle weitergeht.

Gut vier Jahre nach dem Berliner Perspektivprogramm „Salz der Erde“ beginnt nun endlich die interne Auswertung der Reformen, die wieder mehr Menschen an die Kirche Luthers hätte binden sollen. Die Kirche tut sich mit einer Neuausrichtung schwer. Offenbar wissen die Verantwortlichen in der Leitungsebene noch nicht einmal, warum die Menschen austreten. Nur langsam dringen Stimmen von Enttäuschten über die Gemeindeebene hinauf zur Führung.

Die Nachricht vom starken Austrittswillen ist der evangelischen Landeskirche peinlich, auch weil sie wenig überrascht. An öffentlichen Mutmaßungen über die Gründe besteht kein Mangel: Die „Berliner Morgenpost“ stellt einen Zusammenhang von Kirchenaustritten und Missbrauchsskandalen zumindest für die katholische Kirche, der in Berlin rund 316000 Mitglieder angehören, als Tatsache dar: „Die Zahl der Kirchenaustritte hat sich seither dramatisch erhöht und in manchen Bistümern fast verdoppelt“, zitiert die Zeitung Religionssoziologen.

Bei den Protestanten sorgte im Juli der Rücktritt von Bischöfin Maria Jepsen von ihrem Posten in der Nordelbischen Kirche für Aufsehen – sie hatte Kenntnis von sexuellen Übergriffen, aber nichts unternommen. Doch die Krise beider Kirchen, die sich in den Austrittszahlen spiegelt, weist über solche Meldungen hinaus. Seit einem vom damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, verabschiedeten EKD-Programm fragen auch die Berliner Protestanten nach neuen Wegen aus der Krise. Huber brachte den Prozess inhaltlicher Besinnung aufs Kerngeschäft der Kirche gegen viel Widerstand auf den Weg – auch als Bischof der Landeskirche Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz.

Das Programm namens „Salz der Erde“ fordert seither „geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität“. Doch in der Praxis wirbt die Landeskirche weiter für Veranstaltungen wie „Gemeinsam laufen für eine gleichberechtigte und multikulturelle Gesellschaft“. Das Ziel, Gläubige besser zu verstehen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, nimmt derweil an Dringlichkeit zu. Das zeigt die Aktion Berliner Brief. An 385000 Hauptstädter mit evangelischem Hintergrund schickte Generalsuperintendent Ralf Meister Post: „Heute bekommen Sie Post von Ihrer Kirche, und die will nichts von Ihnen.“ Tatsächlich hofft die Kirche auf Reaktionen, will weitere Briefe schicken – wieder ohne Spendenaufruf oder Bitte um Engagement.

Doch warum Menschen der Kirche massenhaft den Rücken kehren – jedes Jahr verlassen über 10000 Menschen die evangelische Landeskirche –, wird auch so kaum ergründet. „Sie müssen das verstehen“, sagen dazu Kirchensprecher und verweisen auf komplexe interne Strukturen. Natürlich gebe es Synoden und Pfarrkonvente. Doch über ein knappes „Stimmungsbild“ zu Austritten gehe dabei niemand hinaus. Eigene Veranstaltungen dazu: unbekannt.

So schrumpft der Austritt zum Verwaltungsakt beim Amtsgericht. Stichproben dort legen nahe, dass gerade im Westen der Stadt die Zahl der Austritte jüngst wieder gestiegen ist. In der evangelischen Kirche beschäftigt sich trotzdem allein der Kirchenkreis Stadtmitte in einem Pilotprojekt mit „Mitgliedschaftsmanagement“. Dort weiß man, Antworten auf Angebote der Kirche wie den Berliner Brief sind selten. „Viele sind inzwischen so kirchenfern, die wissen nicht, dass sie als Studenten, Rentner oder Arbeitslose keine Kirchensteuer zahlen, begründen ihren Austrittswillen aber damit“, so eine Mitarbeiterin. Nur einmal habe sie einen Austritt wegen Übertritts zum Buddhismus in der Post gehabt.

Konversionen spielen also keine große Rolle. Zwar gibt es auch zum Bereich Berliner Stadtmitte keine Zahlen, doch aus Erfahrung weiß man dort, wie viele junge Leute ihren Zuzug nach Berlin als Abschied von der Kirche sehen und austreten. „Fünf bis sechs Jahre später kommen die dann wieder, weil sie Taufpate werden wollen, und fragen uns, wie sie möglichst schnell wieder eintreten.“ Tatsächlich gab es im Jahr 2009 1496 Wiedereintritte, allerdings bei 10363 Austritten.

Die Maßnahmen der Kirche, Glaubensbindungen nicht reißen zu lassen, muten angesichts solch erster, sehr allgemeiner Erkenntnisse verzweifelt an: In Brandenburg will die Kirche mit Musicals die Bibel an die Öffentlichkeit bringen. Ein Jugendmobil fährt zudem über die Dörfer, auch gehe von den Kirchbauvereinen als erstem Kontaktpunkt eine große Kraft aus, so eine Sprecherin der Landeskirche. In Berlin gibt es immerhin vier Kircheneintrittsstellen. Dort sei ein „unbürokratischer Eintritt“ möglich, aber auch Gespräche mit dem eigens dazu abgestellten Pfarrer. Die Protestanten setzen auf „niederschwellige Kontakte“. Eine auch inhaltlich begründete Strategie gegen den Schwund hingegen fehlt. Sverre Gutschmidt


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