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28.08.10 / Nach dem kollektiven Rausch / Wer immer in Brasilien neuer Präsident wird: Aus dem Schatten des Vorgängers herauszutreten wird schwer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-10 vom 28. August 2010

Nach dem kollektiven Rausch
Wer immer in Brasilien neuer Präsident wird: Aus dem Schatten des Vorgängers herauszutreten wird schwer

Am 3. Oktober entscheiden die Brasilianer über die Nachfolge des populären Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Von wem wird das Land, dessen wirtschaftliche und politische Bedeutung weltweit zunimmt, demnächst regiert?

In Brasilien hat offiziell der Wahlkampf für das Amt des Staatspräsidenten, das Bundesparlament, einen Teil der Senatoren und die Abgeordneten der Regionalparlamente begonnen. Bei der Wahl am 3. Oktober geht es jedoch vor allem um die Nachfolge von Staatspräsident Lula da Silva, der nach der Verfassung nicht für eine dritte Amtszeit antreten darf. Lulas Favoritin für seine Nachfolge an der Staatsspitze ist die 1957 als Kind bulgarischer Einwanderer geborene Dilma Rousseff. Sie war unter Lula Staatskanzleiministerin und verantwortlich für das umgerechnet 200 Milliarden Euro schwere „Programm zur Beschleunigung des Wachstums“.

Rousseff ist erst seit 2001 Mitglied der von Lula gegründeten Arbeiterpartei (PT) und hat wenig praktische Erfahrung in Parteiarbeit und öffentlicher Verwaltung. Obwohl Rousseff eine der wichtigsten Minister Lulas war, konnte sie bislang seinen Sympathiebonus nicht auf sich übertragen. Im Gegensatz zu Lula hat die 63-Jährige nichts Volksnahes. Zum Nachteil gerät ihr auch die Tatsache, dass sie während der brasilianischen Militärherrschaft (1964–1985) zwei Jahre als „Terroristin“ im Gefängnis verbracht hat.

Dilma Rousseffs Hauptkonkurrent ist der 68-jährige José Serra von der Sozialdemokratische Partei Brasiliens (PSDB), zu deren Gründern er gehört. Obwohl sich seine Partei sozialdemokratisch nennt, wird sie eher als konservativ und rechtsstehend eingestuft. Was rechts und was links ist, das verschwimmt in Brasilien. Sein Programm unterscheidet sich nur geringfügig von demjenigen Lulas und Rousseffs. Auch Serra war ein Gegner der Putschisten von 1964, er suchte damals drei Monate in der bolivianischen Botschaft Zuflucht, ging nach Bolivien, später nach Frankreich ins Exil. Als er 1965 heimlich nach Brasilien zurückkam und entdeckt wurde, flüchtete er nach Chile, wo er Wirtschaftswissenschaften studierte und heiratete. Weitere Exil-Jahre verbrachte er in Italien, aus dem seine Eltern einst wegen bitterer Armut ausgewandert waren. Unter seinem Parteifreund und Lula-Vorgänger Präsident Fernando Henrique Cardoso war er von 1995 bis 2002 als Planung- und Gesundheitsminister sehr erfolgreich, die vorbildliche Aids-Politik Brasiliens geht auf ihn zurück. 2002 unternahm Serra den ersten Anlauf, Präsident Brasiliens zu werden. Aber damals hatte er keine Chance gegen den früheren Gewerkschafter Lula, der in seinem fünftem Anlauf etwa doppelt so viele Stimmen bekam. Serra war danach Bürgermeister der

16-Millionen-Stadt São Paulo und schließlich Gouverneur des gleichnamigen Bundesstaates, der der größte Brasiliens ist und wirtschaftliches Aushängeschild des ganzen Landes. Ebenso wie Rousseff fehlt es ihm an Charisma, mit dem er bei Reden Wählermassen begeistern könnte. Beide liegen momentan etwa gleichauf.

Wohl aus diesem Grund hat Serra den weitgehend unbekannten Abgeordneten Indio da Costa aus der rechts seiner eigenen Partei stehenden Liberalen Partei (PL) zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten gemacht. Aus der liberalen Partei, die von den in Brasilien stark wachsenden evangelikalen Freikirchen und Sekten geprägt wird, kam auch der Vizepräsident von Lula, José Alencar. Die mittlerweile auf 30 Prozent der Bevölkerung geschätzten Evanglikalen waren bereits bei der Wahl Lulas Zünglein an der Waage.

Die dritte Kandidatin ist Marina Silva, die Brasiliens erster weiblicher „Obama“ werden möchte. Die 52-jährige, dunkelhäutige Politikerin war lange Jahre Mitglied von Lulas Arbeiterpartei und unter Lula lange Zeit Umweltministerin. So hat sie erreicht, etwa 240000 Quadratkilometer unter Naturschutz zu stellen und etwa 100000 Quadratkilometer als Indianerschutzgebiete auszuweisen. Sie erstellte Umweltpolitikpläne für alle Ökosysteme Brasiliens und die Küsten- sowie Meeresgebiete. In den großen umweltpolitischen Zukunftsfragen Brasiliens, Gentechnik, Bau von Riesenstaudämmen, Umwandlung des Amazonasbeckens für das Agrobusiness, konnte sie sich jedoch nicht gegen Präsident Lula durchsetzen und trat 2008 von ihrem Amt zurück und aus der Arbeiterpartei aus. Jetzt tritt sie für die kleine Grüne Partei als Präsidentschaftskandidaten an.

Grüne Parteien sind seit dem Achtungserfolg von Kandidat Antanas Mochus in Kolumbien vor wenigen Wochen auch in Südamerika auf dem Vormarsch. Weniger folgerichtig als ihr politischer Kurswechsel war ihr religiöser. Marina Silva verdankte ihren Aufstieg aus extrem ärmlichen Verhältnissen des Bundesstaates Acre einst der katholischen Befreiungstheologie. Über Clodovis Boff und Bischof Dom Moacyr Grechi von Acre, beides exponierte Vertreter dieser theologischen Richtung, lernte sie die Basisgemeinden der katholischen Kirche kennen, denen auch Präsident Lula einst sein politisches Überleben verdankte. Dank dieser Basisgemeinden, deren Prinzip es ist, soziales und kirchliches Engagement zu vermischen, kam Marina Silva zur Politik, wo sie in wenigen Jahren zur Repräsentantin der armen und farbigen Bevölkerung Brasiliens wurde. 2004 konvertierte sie jedoch zur Assembleia de Deus. Die „Gottesversammlung“ ist mit zirka neun Millionen Anhängern und 40000 Tempeln die größte und am schnellsten wachsende Sekten-Kirche Brasiliens.

Brasilien gehört inzwischen zu den zehn größten Volkswirtschaften der Erde. Es exportiert keineswegs nur landwirtschaftliche Produkte und Erze, sondern auch elektrische Geräte, Maschinen, Fahrzeuge und Kurzstreckenflugzeuge. Vor der brasilianischen Küste wurden in den vergangenen Jahren riesige Ölvorkommen entdeckt. Brasilien gehört damit zusammen mit den Golfstaaten zu den Ländern mit den größten Ölreserven der Erde. Ab 2015 soll das Öl fließen. Der Streit um die Verteilung der Einnahmen zwischen Bund, Einzelstaaten und Privatunternehmen ist bereits eröffnet, aber noch nicht entschieden. Die Öllager vor der Küste Rios liegen in großer Wassertiefe und zudem unter einer dicken Schicht von Salzgestein, was eine Förderung erst bei hohen Ölpreisen lohnend macht.

Mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Erfolgen ist Brasilien in eine Art Euphorie geraten. Diese wird noch verstärkt durch die Ausrichtung der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016, beides persönliche Erfolge von Präsident Lula. All dies hat Brasilien in eine Art kollektiven Rausch versetzt, den Lulas Nachfolger im Grunde nur schwer am Leben erhalten kann. Bodo Bost


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