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28.08.10 / Spielfiguren der Mächtigen / Berichte von Vertriebenen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-10 vom 28. August 2010

Spielfiguren der Mächtigen
Berichte von Vertriebenen

Nach wie vor werden Zeitzeugenberichte über Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den deutsch besiedelten Gebieten in Ostmittel- und Südosteuropa gesammelt und veröffentlicht. In Crailsheim führte der Historiker und Stadtarchivar Folker Förtsch 2004/05 das Projekt „Flucht – Vertreibung – neue Heimat“ durch. Im Mittelpunkt standen Berichte von Flüchtlingen und Vertriebenen, die seit 1945 nach Crailsheim (Baden-Württemberg) und in die Gemeinden der Umgebung verschlagen wurden. 1950 zählte man 11265 dieser Zuzügler, was einem Anteil von 18 Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach. Hinzu kamen 1000 Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR. Förtsch stellte neun Dokumentationen zusammen und veröffentlichte sie unter dem Titel „Die Heimat verloren – Erinnerungen an Flucht, Vertreibung und Neuanfang“. Als Vorwort des mit zahlreichen Abbildungen ausgestatteten, ausgezeichnet lektorierten Bandes hat er eine Darstellung zum Thema „Umsiedlung, Vertreibung und ethnische Säuberung als Phänomen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ beigetragen. Darin umreißt er die politische Entwicklung, die dem unendlichen Leid und der Heimatlosigkeit von Millionen Menschen vorausgegangen war. Seiner Meinung nach waren die Hauptursachen für die Vertreibung der von Hitler angezettelte Krieg und die Expansionspolitik des „Dritten Reiches“ vor dem Hintergrund der stark belasteten Nationalitätenverhältnisse auf dem Balkan und in Osteuropa. Auch stellt er heraus: Die Hauptverantwortung für die Durchführung ethnischer Säuberungen, die mit den Jugoslawienkriegen in den 1990er Jahren endeten, trugen die Regierungen und politischen Eliten.   

Die Herkunftsgebiete der Bericht-erstatter sind Bessarabien, die Batschka sowie Slawonien im ehemaligen Jugoslawien, Lodsch, Danzig, das Wartheland, Ostpreußen und Schlesien. Manche der Zeitzeugen erlebten die teilweise traumatischen Erlebnisse als Kinder. Nicht wenige Frauen, Männer und Kinder, die Opfer oder Augenzeugen von Gewaltexzessen wurden, drohten seelisch zu zerbrechen. Erschütternd sind die Tagebuchaufzeichnungen von Marta Erwin aus Persing, Kreis Osterode. Vervollständigt wurde ihr Bericht von den beiden Enkelinnen der Schreiberin. Mehrere Berichte handeln von Zwangsumsiedlungen während der Kriegsjahre beziehungsweise vom Verlust von Hab und Gut in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens infolge des Kriegsverlaufs.

Von einer zwangsweisen Umsiedlung nach Polen handelt der Zeitzeugenbericht von Arno Ferchow, geboren 1929 nahe Lodsch. Nach dem „Blutsonntag“ von Bromberg (Bydgoszcz), bei dem etwa 6000 Volksdeutsche umgebracht wurden, war die Familie ins Reich geflüchtet. Auch sie wurden wie Spielfiguren auf der Landkarte Osteuropas verschoben: Nach der deutschen Besetzung Polens

mussten sie nach Lodsch zurück-kehren. Der junge Mann hatte Glück: Im Februar 1945 war er von den Russen in einem überfüllten Güterwaggon in Richtung Osten abtransportiert worden, konnte aber entkommen. Da er fließend Polnisch sprach, mischte er sich auf einem Bahnhof unter polnische Rückkehrer aus Russland, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren. Er kehrte nach Lodsch zurück und gelangte schließlich nach Berlin.             Dagmar Jestrzemski

Folker Förtsch (Hrsg.): „Die Heimat verloren – Erinnerungen an Flucht, Vertreibung und Neuanfang“, Baier BPB Verlag, Crailsheim 2009, gebunden, 224 Seiten, 19,90 Euro


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