25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
04.09.10 / Tierische Neuinszenierung und ein Schlussakkord / Über die Wandlungsfähigkeit einer Institution – Gibt es noch einmal ein »Neu-Bayreuth«?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-10 vom 04. September 2010

Tierische Neuinszenierung und ein Schlussakkord
Über die Wandlungsfähigkeit einer Institution – Gibt es noch einmal ein »Neu-Bayreuth«?

Unter „Neu-Bayreuth“ versteht man die totale Änderung der Inszenierungen nach dem Zweiten Weltkrieg durch Wieland und Wolfgang Wagner. Das Bühnenbild wurde vereinfacht, man arbeitete nur mit wenigen Aufbauten und viel Licht und Schatten. Seit knapp zehn Jahren vollzieht sich in Bayreuth wieder eine radikale Änderung des Inszenierungsstils.

Die bekannten Regisseure scheinen sich abgesprochen zu haben, so werkfern zu inszenieren, dass man, wäre nicht die Musik, das jeweilige Werk nicht mehr erkennen würde. Regisseure mit anderer Auffassung werden offensichtlich ausgesperrt. Der Opernfreund vermisst die nicht erklärungsbedürftige, unmittelbar eingehende Inszenierung, die einfach über ihre Bilder, die Personenführung und natürlich über die Musik wirkt.

Aus der romantischen Oper „Lohengrin“ zum Beispiel ist in der Neuinszenierung von Hans Neuenfels in Bayreuth 2010 eine komische geworden, ein Mäusestück – noch besser, ein Rattenstück in der Art E. T. A Hofmanns. Litt etwa Brabant, wo die Oper spielt, im 10. Jahrhundert unter einer Rattenplage? Es gibt sie in weiß und schwarz auf der Bühne, und, geradezu niedlich, für Kinder wohl, auch in pink. Manchmal tragen sie nur noch die Füße und Hände von Ratten, sonst aber Frack und Zylinder, und ihre Rattenverkleidungen hängen sie einstweilen säuberlich an eine aus dem Schnürboden herab- und wieder hinauffahrende, durchnummerierte Riesengarderobe. Dann treten sie in der flotten gelben Glamour-Tracht einer Broadway Revue auf, die Rattendamen sind beim Hochzeitszug in niedliche bunte Kleidchen gesteckt, an Ratten erinnern nur noch die überlangen Schwänze. Und schließlich verwandelt sich das Rattenvolk am Schluss in echte Menschen in schicken Uniformen, die an die Tracht von Studentenverbindungen erinnern.

Darüber hinaus wird man durch türkisgrün gekleidete, aseptisch total verhüllte Laboranten, die immer wieder die geschäftig hin und her trippelnden Nager einfangen und abdrängen, und die hermetischen Wände mit runden Bullaugen daran erinnert, dass dieser „Lohengrin“ im Labor spielt.

Die Ritter sind Ratten, und Heinrich der Vogler ist der fallsüchtige König Ubu des gleichnamigen surrealistischen Theaterstücks, der jämmerlich durch die ganze Szene taumelt.

Zum Bekenntnis zur Werksferne muss noch ein Bekenntnis zur Hässlichkeit kommen. Bei aller sonstigen unterkühlten Ästhetik des Bühnenbildes – das Kind Gottfried, der neue Herzog von Brabant, steigt aus einem riesigen Ei als abscheulicher Homunkulus, mit aufgedunsenem Bauch und Wasserkopf und schmeißt seine Nabelschnur stückweise unter die Anwesenden.

Als ob die Tierchen auf der Bühne nicht genug wären, schaut das Publikum auf eine große Filmleinwand mit eingeblendeten, weiteren Mäuse- und Ratten-szenen mit belehrendem (?) Text.

Ein Gegengewicht zu solch einer Inszenierung können nur die Sänger und Musiker bieten. Und da wurde in Bayreuth mit schwerem Geschütz aufgewartet. Selten hat man einen Tenor gehört, der heldisch wie lyrisch gleichermaßen vollkommen war wie Jonas Kaufmann. Die Regie zeigte ihn in seinem ganzen Schmerz – kein weltabgewandter überirdischer Gralsbringer, sondern – trotz der Ratten – so gern bleiben wollend, „tieftraurig“, wie Wagner selbst einmal seinen Lohengrin nennt.

Anette Dasch war ihm eine meistens ebenbürtige Elsa, mit kräftigem lyrischen Sopran. Beide waren auch optisch eine wahre Freude. Georg Zeppenfeld als König Heinrich war ein stimmliches Phänomen mit seinem wahrhaft königlichen mächtig-schönen Bass und der absoluten Verständlichkeit des Textes.

Was Wagner heute noch zu sagen hat, dafür ist gerade „Der Ring des Nibelungen“ das Paradebeispiel. Ein Kosmos, ein Pandämonium tut sich auf: Liebe und Hass, Mut und Feigheit, Selbstlosigkeit und Egoismus, vor allem aber die Gier des Menschen. Sie ist die Triebfeder der Protagonisten und Antagonisten – Alberich, Mime, Wotan, Fafner und Fasolt, Hagen, Gunter.

Das darzustellen braucht es keine Inszenierungen mit dem Dampfhammer; was Wagner dazu sagt, kann sich jeder selbst in seine eigene Zeit übersetzen. Regisseur Tankred Dorst folgte daher auch weithin dem Text, abgesehen von einer Reihe meist marginaler, oft missglückter Bezüge auf die heutige Zeit.

Der Dirigent Christian Thielemann ist beim „Ring“ in seinem Element. Er baut die Handlung mit Tönen auf, erzählt die Geschichte in Musik und entwickelt ein immer dichter werdendes Klanggemälde. Eine gelungene Produktion, die man in diesem Jahr zum letzten Mal hörte. Irmgard und Werner Dremel


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren