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04.09.10 / Der Königsberger Weg / Ob zu Zeiten der Preußen oder heute unter den Russen, die Bewohner der Stadt entwickelten stets eine eigene Identität

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-10 vom 04. September 2010

Der Königsberger Weg
Ob zu Zeiten der Preußen oder heute unter den Russen, die Bewohner der Stadt entwickelten stets eine eigene Identität

Stefan Berger, Professor für deutsche und europäische Zeitgeschichte an der Universität Manchester, hat internationale Autoren um sich geschahrt und sie über die Stadt mit den vielen Namen – „Kaliningrad, Königsberg, Królewiec, Karaliaucius“ – und der vielfältigen Identität nachdenken lassen. Wobei nur Berger in „Kaliningrad in Europa – Nachbarschaftliche Perspektiven nach dem Ende des Kalten Krieges“ explizit von „Königsberg“ spricht und in einer Einleitung in Stadt-, Regional- und Problemgeschichte ein Kompliment ans andere reiht: Königsberg war preußisch, aber nicht absolutistisch, deutsch, aber multikulturell – räumlich weit entfernt vom „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“, aber dank einer beeindruckenden Reihe deutscher Geistgrößen „Vorposten der Aufklärung im Osten Europas“. Eine Sonderstellung behielt die Stadt auch nach 1945, als sie durch die Vertreibungen der Deutschen und der Neuansiedlung von Russen zur „sowjetischen Modellstadt“ umgewandelt werden sollte. Das ging gründlich schief, „die Bevölkerung blieb letztendlich unzufrieden mit dem kommunistischen Kaliningrad“, konstatiert Berger beinahe schadenfroh. Erst in postkommunistischer Zeit setzte „die Legitimierung von Königsberg durch offizielle russische Stellen“ ein, die als „Abrechnung mit dem kommunistischen Regime“ betrieben wurde und gründlicher ausfiel, als manchem Kreml-Bürokraten lieb war: „Kaliningrader Identitäten liegen näher an europäischen Identitäten als russische.“

Auf über 60 Seiten beschreibt Berger in einem zweiten Aufsatz „Kaliningrad und seine Königsberger Vergangenheit in der jüngsten deutschen Wahrnehmung“ – ein archivalisches und interpretatorisches Glanzstück, das eventuell den falschen Titel hat. Die „deutsche“ Wahrnehmung nimmt eher ab, da selbst Vertriebenensprecher einräumen, „dass in der heutigen russischen Stadt mehr der kulturellen deutschen Tradition gedacht wird als bei uns in der Bundesrepublik“.

Wie russisch, europäisch, „kaliningradisch“ ist Königsberg? Wie Olga Sezneva von der University of Chicago sehr lebendig ausführt, leben in der Stadt immer mehr „Kaliningrader“, mehrheitlich russische Rückwanderer aus Ex-Sowjetrepubliken, die ihre „territoriale Identifizierung“ in Richtung auf eine eigene Identität betreiben – „Kaliningradniks“ eben, 78 Prozent der heutigen Bevölkerung, deren komplizierte Selbstfindung Olga Sezneva formuliert: Wir haben keine gemeinsamen Grenzen mit Russland und Deutschland. Unsere Region ist weder deutsch noch russisch, es ist einfach unsere Region, die uns bislang fehlenden Wurzeln schaffen wir uns hier. Sogar empirisches Zahlenmaterial nennt die Autorin: „Ein Anschluss an Deutschland, Litauen oder Polen wird von nur 13,6 Prozent von uns als mögliche Zukunftsalternative im Zusammenhang mit einer Sezession von Russland diskutiert, aber 29 Prozent von uns können sich Kaliningrad als vierten souveränen Staat im Baltikum vorstellen.“

Ähnliche Gedankenspiele finden sie bei Polen, wie Ewa Romanow-ska von der „Kulturgemeinschaft Borussia“ aus Allenstein beschreibt: Die polnischen Erfahrungen mit Russland sind so schlecht, dass man die russische Exklave Königsberg bänglich beäugt – die polnische Bindung an die EU ist so stark, dass man Königsberg auch als ökonomische Chance begreifen möchte: Königsberg kann als rück-ständige „Insel“ enden oder zur europäischen Avantgarde Russlands reifen, wenn es mit Polens Hilfe Kontakte zur EU aufnimmt und Autonomie von Russland erlangt. Frau Romanowska ist zu danken, dass sie alle polnischen Überlegungen referiert, meist anonym, denn da wird Tacheles geredet: „Ostpreußen und damit Königsberg sollten polnisch sein“, es soll an Litauen oder Polen „übergeben“ oder zwischen beiden aufgeteilt beziehungsweise „zu einer zollfreien Zone mit Blick auf eine mögliche Gründung eines vierten baltischen Staates“ umgewandelt werden. Nur frühere und heutige Ist-Zustände, nämlich deutsches Königsberg und russisches Kaliningrad, erscheinen wohl keinem Polen auch nur erwähnenswert.

Radikaler sind die Litauer, deren früherer Kommunistenchef Antanas Snieckus angeblich Stalins Offerte ablehnte, das nördliche Ostpreußen an Litauen anzuschließen. Später tat manchem diese Ablehnung leid, und zahlreich sind litauische Versuche, die russische Souveränität in Königsberg zu beenden und diese „Kolonie“ nach Litauen „heimzuholen“. Daraus wird natürlich nichts, wie auch die EU bislang keine Anstalten machte, sich zum Erfüllungsgehilfen litauischen Appetits auf Königsberg zu machen.

Natürlich ist Königsberg der EU nicht gleichgültig, erläutern Tobias Etzold und Clive Archer von der Universität Manchester, und Brüssels Northern Dimension (ND) ist ein vielversprechender Weg, divergierende Ängste, Wünsche und Pläne aller Beteiligten konstruktiv auszugleichen: Die EU wird Königsberg so „technisch“ und partnerschaftlich wie Norwegen, Island und andere Nicht-EU-Staaten behandeln, was der Stadt und ihrer Umgebung nützt, zudem EU und Russland näher zueinander bringt. Königsberg bleibt russisch, wird „europäisch“ organisiert und verwaltet und so der „Lackmus-Test für die Fähigkeit zu regionaler Stabilität und Sicherheit durch Integration neutraler Staaten in westliche Strukturen und eine Politik regionaler Kooperation“.

Dabei kommt den „nordischen Ländern“ mit Dänemark an der Spitze eine Pionierrolle zu, konstatieren die beiden Autoren. Ihr Urteil wird im letzten Aufsatz, verfasst von dem Dänen Pertti Joenniemi und dem Russen Alexander Serguin, befriedigt aufgegriffen und fortgeführt: „Kaliningrad bekam einen Sonderstatus im gemeinsamen Fahrplan EU-Russland“ und könne „sich in eine Art Hongkong an der Ostsee entwickeln“.            Wolf Oschlies

Stefan Berger (Hrsg.): „Kaliningrad in Europa – Nachbarschaftliche Perspektiven nach dem Ende des Kalten Krieges“, Veröffentlichungen des Nordost-Instituts Bd. 14, Harrasowitz Verlag, Wiesbaden 2010, gebunden, 207 Seiten, 29 Euro


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