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11.09.10 / Bismarcks »Filetstück« feiert Geburtstag / Vor 125 Jahren trat das Unfallversicherungsgesetz in Kraft – Weltweit vorbildliche Sozialpolitik

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-10 vom 11. September 2010

Bismarcks »Filetstück« feiert Geburtstag
Vor 125 Jahren trat das Unfallversicherungsgesetz in Kraft – Weltweit vorbildliche Sozialpolitik

Seine Majestät Wilhelm, „von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen“, machte sie höchstpersönlich zur Chefsache. Für Otto von Bismarck, den „Eisernen Kanzler“, war sie ein Herzstück seiner langfristig angelegten Sozialpolitik. Sozialisten kritisierten sie als völlig unzureichend, Liberale als viel zu weitgehend, dennoch nahmen viele Staaten in Europa und in aller Welt sie zum Vorbild: Die gesetzliche Unfallversicherung, die in Teilen am 6. Juli 1884 und vollständig vor 125 Jahren, am 1. Oktober 1885, in Kraft trat.

Erstmals wurde darin gesetzlich geregelt, dass nach Betriebsunfällen die Existenz der Arbeiter und ihrer Familien abgesichert war, unabhängig von der Verschuldensfrage. Die neuartige, damals weltweit einmalig Unfallversicherung trug die Kosten von Heilverfahren und Medikamenten, zahlte nach dem Auslaufen der Krankenversicherung, also nach 13 Wochen, das Krankengeld weiter. Bei unfallbedingter Erwerbsunfähigkeit gab es zwei Drittel des bisherigen Lohnes als Rente, bei tödlichen Unfällen erhielt die Witwe 20 Prozent als Hinterbliebenenrente. Und die Beiträge hatten ausschließlich die Arbeitgeber zu tragen.

Dieses Gesetz, das anfangs nur für Fabriken, Bergwerke und Steinbrüche galt, aber schon bald auf alle Arbeitsbereiche der industriellen Produktion ausgeweitet wurde, markiert den Kern der Bismarck’schen Sozialreform. Vorangegangen war die am 15. Juni 1883 eingeführte gesetzliche Krankenversicherung für Arbeiter – nicht für Angestellte! Sie erhielten, so ihr Jahreslohn unter 2000 Mark lag, im Krankheitsfall 13 Wochen lang die Hälfte des durchschnittlichen Lohns als Krankengeld, höchstens zwei Mark pro Tag. Das Existenzminimum einer vierköpfigen Familie war damals mit 25 Mark in der Woche angesetzt. Im Vergleich zur heute selbstverständlichen sozialen Absicherung war das wenig und bewahrte nicht vor bitterer materieller Not. Gegenüber dem Zustand vor diesem ersten Reformschritt darf man aber von einer geradezu sensationellen Verbesserung sprechen.

Die Beiträge der Krankenversicherung trugen die Arbeiter selber zu zwei Drittel, ein Drittel hatten die Arbeitgeber zu zahlen.

Das Unfallversicherungsgesetz von 1885 brachte gegenüber der Krankenversicherung bereits deutliche Verbesserungen. Zugleich war damit die Grundlage für den dritten Reformschritt gelegt, die Alters- und Invalidenrentenversicherung, die allerdings erst am 24. Mai 1889 vom Reichstag verabschiedet wurde. Sie legte fest, dass Arbeiter mit einem Jahreseinkommen unter 2000 Mark nach Zahlung von mindestens 30 Monatsbeiträgen ein Drittel ihres Durchschnittslohns als Rente erhielten. Der Staat zahlte für jeden Rentenberechtigten einen jährlichen Grundbetrag von 50 Mark, den Rest trugen Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte.

Außer bei Invalidität, also Minderung der Erwerbsfähigkeit um mehr als zwei Drittel, trat dieser Rentenanspruch jedoch erst mit Vollendung des 70. Lebensjahres in Kraft – die weitaus meisten Arbeiter wurden damals gar nicht so alt. Insofern sind Vergleiche mit unserer heutigen Diskussion über „Rente mit 67“ völlig verfehlt.

Über die Motive, die Bismarck zur Durchsetzung dieses weltweit vorbildlichen Sozialsystems bewogen hatten, wird bis heute gestritten. Sicher darf man davon ausgehen, dass der Reichskanzler damit den immer stärker auftretenden sozialistischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen wollte (was ihm allerdings nur teilweise gelang). Dies als alleinige Triebfeder zu vermuten, wäre jedoch „zu kurz gesprungen“. Im Kern entsprachen Bismarcks sozialpolitische Zielvorstellungen traditionellem preußischem Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, wie es schon von Immanuel Kant formuliert und von Herrschern wie Friedrich dem Großen praktiziert wurde.

Gelingen konnten die wegweisenden Reformen nur, weil Kaiser und Kanzler sich in den Grundzügen einig waren und sich in der Durchsetzung optimal ergänzten. So stand schon am Anfang eine „Kaiserliche Botschaft“, in der Wilhelm I. am 17. November 1881 den Aufbau der Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung als vorrangiges politisches Langzeitziel ankündigte, schon damals übrigens „in Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz“, also ausdrücklich nicht als Instrument des ansonsten von Bismarck favorisierten „starken Staates“. Öffentlich verlesen wurde die „Kaiserliche Botschaft“ zur Chefsache Sozialreform freilich nicht von Seiner Majestät persönlich, sondern vom Reichskanzler, denn der – nicht versicherungspflichtige – Kaiser war erkrankt. Hans-Jürgen Mahlitz


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