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11.09.10 / Warum die dritte Revolution bis jetzt ausblieb / Mexikos konservative Regierung hinterfragt die traditionelle Verherrlichung der revolutionären Umbrüche des Landes

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-10 vom 11. September 2010

Warum die dritte Revolution bis jetzt ausblieb
Mexikos konservative Regierung hinterfragt die traditionelle Verherrlichung der revolutionären Umbrüche des Landes

Dem Feiern einer zünftigen Fiesta sind die Mexikaner eigentlich nie abgeneigt. Gründe gäbe es dieses Jahr auch genügend, schließlich wurden vor 200 Jahren die Spanier und vor 100 Jahren der Diktator Porfirio Díaz vertrieben. Beide Male siegte das Volk. Doch im Jahr 2010 ist den Mexikanern nicht zum Feiern zu Mute.

Seit dem Jahr 2000 stellt der Partido Acción Nacional (PAN) den Präsidenten. Sie beerbte der Partido Revolucionario Institucional (PRI), die jahrzehntelang das Land regierte und heruntergewirtschaftet hat. Das revolutionäre Ziel einer gesellschaftlichen Einheit mit einem gewissen Maß an Gleichheit scheint heute weiter entfernt denn je.

Seit der Gründung des Staates 1910 krankt die mexikanische Gesellschaft an sozialer Ungleichheit. Die Verstaatlichungsprogramme, die blutige Verfolgung der Kirche und anderer Gruppen mit mehr als einer Million Opfern, scheint keine gute Frucht gebracht zu haben.

Für den Publizisten Jorge Alcocer gibt es daher 2010 nichts zu feiern, weil die Nation „in einem Sumpf steckt“ und jeden Tag tiefer sinke, wie er sich bildhaft ausdrückt. Das ist keine Einzelmeinung, denn Hunderttausende wandern jedes Jahr, vornehmlich in die USA, aus. Jeder zehnte in seiner Heimat geborene Mexikaner lebt inzwischen in den USA oder Kanada.

Zeit also für eine neue Revolution, die dritte nach 1810 und 1910? Nichts spricht dafür. In öffentlichen Diskussionen herrschen Pessimismus und Zweifel, ob die heutigen Akteure im politischen Rahmen die Probleme des Landes lösen wollen oder können. Eine Revolution würde das von Gewalt und Unsicherheit geprägte Land noch tiefer in Chaos und noch mehr Gewalt stürzen.

In breiten Kreisen der Gesellschaft herrsche zwar Unzufriedenheit, aber eine neue Revolution hält die Historikerin Romana Falcón allein schon deswegen für unwahrscheinlich, weil sonst „fast die gesamte Geschichte Mexikos aus Umstürzen bestehen müsste“. Revolutionen seien aber sehr seltene und komplexe Konstellationen, vergleichbar mit Sonnenfinsternissen bei den Planeten. Da müssten die Stimmung des Volkes, geeignete Führer und vieles mehr zusammenkommen.

Erstaunlich ist allerdings, dass der Mythos „Revolution“ in Mexiko das 20. Jahrhundert weitgehend unbeschadet überstanden hat. Während in Europa im Jahr 1989 der revolutionäre Elan der sozia-listischen Bewegung weitgehend zu Grabe getragen wurde, gelte in Mexiko eine andere Wahrnehmung. Danach sei das Gute revolutionär und das Revolutionäre gut, so der Historiker Enrique Krauze.

Zwei der drei großen Parteien des Landes, der PRI und der Partido de la Revolución Democrática (PRD) haben sich diesem Erbe Mexikos verschrieben. In jeder Stadt sind demzufolge Straßen oder Schulen nach den Helden der Revolution benannt.

Obwohl der PRI seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts immer korrupter und verrufener wurde, färbte sein Niedergang nicht auf den revolutionären Mythos ab. Den Grund dafür sieht Romana Falcón darin, dass es der PRI gelang, die materiellen Lebensbedingungen zumindest bis in die 70er Jahre hinein zu verbessern.

Bedauerlich für alle Protagonisten der Revolution scheint, dass ihre Revolutionsbegeisterung von denen nicht geteilt wird, die derzeit an der Macht sind. Derzeit regieren die, die nach der nationalen Geschichtsschreibung und in mexikanischen Schulbüchern gar nicht vorkommen: die Konservativen des Partido Acción Nacional (PAN), die eng mit der katholischen Kirche liiert sind. Bei den erbitterten Richtungskämpfen nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1821 waren sie die Verlierer und die Liberalen die Sieger. Die Liberalen verhinderten damals die Monarchie, enteigneten die Kirche und setzten den laizistischen, vermeintlich demokratischen Staat durch. In den Revolutionsjahren von 1910 bis 1917 gelang es den Revolutionären, diesen Kurs wieder zum Sieg zu verhelfen. Da schlossen sich indigene Campesinos mit liberalen Großbürgern, sozialistischen Nationalisten und gerissenen Ganoven zusammen. So das Bild dieser liberal-sozialistischen Geschichtsschreibung, die an öffentlichen Schulen bis zur Stunde gelehrt wird.

An den katholischen Privatschulen des Landes wird dagegen eine andere Sicht der Geschichte gepflegt. Viele Regierungsmitglieder entstammen diesem als „elitär“ diffamierten Milieu, das ein „oppositionelles Geschichtsbild“ vertritt. Freilich wagen die Konservativen kaum, es in der Öffentlichkeit zu vertreten, weil weite Bevölkerungskreise das liberal-revolutionäre Bild „glauben“. Geschichte wird eben allzu oft von den Siegern oder zumindest solchen geschrieben, die sich als Sieger fühlen. Deutsche denken in diesem Zusammenhang an Margot und Erich Honecker, die noch im Oktober 1989 die „historischen Errungenschaften“ der DDR zu feiern wussten.

Auf Seiten der Regierung des konservativen Präsidenten Felipe Calderón mag so die Lustlosigkeit erklärbar sein, die vergangenen Revolutionen zu feiern. Aber auch bei seinen sozialistisch-liberalen Gegner scheinen sich Zweifel eingeschlichen zu haben, ob eine weitere Revolution das Land wirklich voranbringt. So erklärte Calderón jüngst vermittelnd, dass der Weg zu einem gerechten und prosperierenden Mexiko noch sehr weit sei. Wer will dagegen etwas sagen?     Hinrich E. Bues

Zu denken wäre etwa an Andrés Manuel López Obrador, den 2006 unterlegenen Präsidentschaftskandidaten. Als eine Art Volkstribun tingelt er seither durch die Dörfer und predigt gegen die Eliten des Landes. Wie populär er tatsächlich ist, scheint schwer abschätzbar. Bisher jedenfalls hat er kaum eine größere Bewegung entfachen können. Einen Aufstand der Massen im Jahr 2010 hält der Wissenschaftler Lorenzo Meyer vom Colegio de Méxiko ebenfalls für unwahrscheinlich. Der politisch links stehende Mann folgt einer Revolutionstheorie, nach der Menschen mitten in einer Wirtschaftskrise vom täglichen Überlebenskampf so absorbiert sind, dass ihnen keine Zeit und Lust für das Schmieden umstürzlerischer Pläne bleibt. Erst in der kommenden Erholungsphase sei wieder die Zeit für einen veritablen Umsturz.

Ernst zu nehmen braucht man solche Debatten wohl kaum, die allenfalls in den Feuilletons und nicht auf den politischen Seiten der Zeitungen geführt werden.

Mexiko leidet unter der Weltwirtschaftskrise wie kaum ein zweites Land. Die Armut steigt seit 2006 unaufhörlich und wird wohl weiter zunehmen. Touristen, die an ihrem Leben hängen, wird Geleitschutz empfohlen. Morde und Entführungen sind an der Tagesordnung; ein Drogenkrieg fordert tausende Opfer jährlich und ein Ende ist kaum abzusehen. Wer kann – und nicht zur privilegierten und reichen Oberschicht zählt – versucht über die stark gesicherte Grenze in die benachbarten Vereinigten Staaten zu fliehen.

Die Politik vermittelt nicht den Eindruck, an den Zuständen wirklich etwas ändern zu können.


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