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02.10.10 / Wie Afrika unabhängig wurde / Wie bei der Erreichung der Millenium-Ziele hinkte der Kontinent auch bei der Dekolonisation hinterher

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-10 vom 02. Oktober 2010

Wie Afrika unabhängig wurde
Wie bei der Erreichung der Millenium-Ziele hinkte der Kontinent auch bei der Dekolonisation hinterher

Bei der Verfolgung der Millennium-Entwicklungsziele, die der Millennium-Gipfel im Jahr 2000 verabschiedet hat, hinkt Afrika hinterher. Rückständig war dieser Erdteil auch schon bei der Entkolonialisierung. Obwohl die weltweite Dekolonisation bereits nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, erreichte sie auf dem schwarzen Kontinent erst vor 50 Jahren im „Afrikanischen Jahr“ 1960 ihren Höhepunkt, als 17 afrikanische Staaten unabhängig wurden.

Die Selbstzerfleischung Europas in den beiden Weltkriegen been­dete dessen Vorherrschaft in der Welt. Die neuen Supermächte waren keine klassischen Kolonialmächte und trugen auf ihre Weise zur Beendigung des Kolonialismus bei. Russland förderte die Dekolonisation, um die klassischen Kolonialmächte, die zur westlichen, „kapitalistischen“ Welt gehörten, zu schwächen. Doch auch die mit den größten Kolonialmächten verbündeten USA bekämpften den Kolonialismus. Im Grunde ähnelte ihre Interessenlage der deutschen nach der Reichsgründung: Sie waren bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen, aber wirtschaftlich umso stärker. Ähnlich wie Bismarck auf der Berliner Kongokonferenz von 1884/85, bloß eben mit der Durchsetzungskraft einer Supermacht, versuchten deshalb die USA, Freihandel durchzusetzen und die Abschottung von Märkten durch die Kolonialstaaten zu bekämpfen.

So verpflichteten die USA den von ihnen abhängigen britischen Verbündeten noch während des Weltkrieges mit der Unterzeichnung der Atlantik-Charta auf die Achtung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker. Doch nicht nur seitens des US-amerikanischen Verbündeten sahen sich die Briten Widerstand gegen den Kolonialismus ausgesetzt, sondern auch von Seiten ihrer Kolonien. Ebenso wie das Frankreich Charles de Gaulles hatte Großbritannien die menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen seiner Kolonien für den Weltkrieg ausgebeutet. Danach waren viele Kolonialvölker nicht bereit, die Unterdrückung weiter zu akzeptieren, wo ihre Kolonialherren ihnen ihre Opfer doch mit dem Hinweis abverlangt hatten, einen Krieg für die Freiheit zu kämpfen. Und das Beispiel Indien zeigte den Afrikanern, das Dekolonisation auch gegen den Willen der Kolonialherren möglich war.

Nicht dass Nachkriegsengland in Afrika auf Gewalt verzichtet hätte, aber im Großen und Ganzen fügte es sich doch in sein Schick­sal und versuchte, aus der Situation das Beste zu machen. So konzentrierte der Inselstaat seine Kräfte darauf, einheimischen Kräften die Macht zu überlassen, die vergleichsweise englandfreundlich waren.

Anders reagierte Frankreich, das die Atlantik-Charta nicht unterzeichnet hatte. Mit dem für einen Staat, der mehr sein will, als er ist, eigenen Prestigebedürfnis glaubte die Grande Nation, auf Kolonien nicht verzichten zu können. Und die erfolgreiche Niederschlagung des Aufstandes in Madagaskar im Jahre 1947 bestätigte Paris in seiner Haltung, dass eine Fortsetzung der Kolonialherrschaft gegebenenfalls auch mit Gewalt möglich sei. Andererseits zeigte der erfolgreiche Befreiungskampf der Vietnamesen, dass Kolonialvölker sich mit Waffengewalt von der französischen Fremdherrschaft befreien können. Am 7. Mai 1954 gelang den Vietnamesen der kriegsentscheidende Sieg von Dien Bien Phu; am 1. November 1954 nahmen die Algerier den bewaffneten Kampf für ihre Unabhängigkeit auf. Vier Jahre später war die Kriegsmüdigkeit in Frankreich so groß, dass daran die Vierte Republik zerbrach. Es war dann an de Gaulle mit seiner Autorität aus dem Zweiten Weltkrieg, Frankreich aus Afrika herauszuführen. Allein im „Afrikanischen Jahr“ 1960 entließ seine Fünfte Republik 14 afrikanische Staaten in die Unabhängigkeit. Zwei Jahre später folgte schließlich auch Algerien.

Wie die Vierte Republik wollte auch António de Oliveira Salazars „Estado Novo“ (Neuer Staat) anfangs nicht von seinen Kolonien lassen. Nach französischem Vorbild versuchte dabei die portugiesische Regierung den anachronistischen Kolonialismus per Ersetzung des Begriffes „Kolonie“ durch den Euphemismus „Überseegebiet“ in die Nachkriegszeit zu retten. Seinen Kolonien hatte Lissabon dabei eine ähnliche Rolle zugedacht wie Ankara der Bundesrepublik. Die hohe Arbeitslosigkeit in Portugal sollte durch die Migration portugiesischer Arbeitslose in die Kolonien gesenkt werden. In einem „Übersee-Entwicklungsplan“ heißt es: „Wir müssen Afrika mit Europäern bevölkern, die die Stabilität unserer Herrschaft sichern und die ,Portugiesierung‘ der einheimischen Bevölkerung vorantreiben.“ Hätten Portugals Kolonien damals so viele „Gutmenschen“ wie die Bundesrepublik heute gehabt, wären die portugiesischen Migranten wohl als Bereicherung begrüßt, der „Übersee-Entwicklungsplan“ aufgegangen und Portugal immer noch Kolonialmacht. In Portugals Kolonien lebte jedoch ein anderer Menschenschlag. Und als Portugal das Afrikanische Jahr verstreichen ließ, ohne seine afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen zu haben, begann 1961 eine Reihe von Kolonialkriegen gegen das Mutterland. Ähnlich wie die Vierte Republik am Algerienkrieg zerbrach der Estado Novo an diesen Kolonialkriegen. Nach der Nelkenrevolution von 1974 been­dete die aus ihr hervorgegangene Dritte Republik die Kolonialkriege und entließ die afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit.

Aufsehenerregend verlief der Machtwechsel in Belgisch-Kongo. Belgien hatte geglaubt, mit seinem „Wohlfahrtskolonialismus“ die Situation ganz gut im Griff zu haben. Das Bild der Kongolesen von der belgischen Fremdherrschaft war jedoch weniger von den späten Sozialleistungen als vielmehr von der grausamen Ausbeutung durch den belgischen König Leopold II. (1835–1909) geprägt. So sah sich Belgien gezwungen, seine Kolonie ebenfalls im Afrikanischen Jahr in die Unabhängigkeit zu entlassen.

Bei der Unabhängigkeitsfeier stießen die unterschiedlichen Geschichtsbilder von Mutterland und Kolonie in Rede und Gegenrede aufeinander. Nach einer provozierenden Festrede Baudouins (1930–1993), in welcher der noch relativ junge König die „Leistungen“ seines Vorfahren Leopold, die „Errungenschaften“ und die „zivilisatorischen Verdienste“ der Kolonialherrschaft sowie die „Opfer, die Belgien für den Kongo erbracht“ habe, lobte, rechnete der kongolesische Ministerpräsident Patrice É. Lumumba in seinem Beitrag schonungslos mit der belgischen Kolonialherrschaft ab. So undiplomatisch, aber gerechtfertigt diese Abrechnung war, so gewagt war seine anschließende Prognose: „Wir werden der ganzen Welt zeigen, wozu schwarze Menschen in der Lage sind, wenn sie erst frei sind.“ Einen ersten Eindruck konnte die Welt inzwischen gewinnen. Bereits ein halbes Jahr nach der Machtübernahme durch die Kongolesen wurde das Freiheitsidol vieler von schwarzen Landsleuten erst verhaftet, dann gefoltert und schließlich getötet. Und ein halbes Jahrhundert nach dem Afrikanischen Jahr liegen die schwarzen Nachfolger der weißen Kolonialherren dem weißen Steuerzahler noch immer auf der Tasche – Tendenz steigend. Manuel Ruoff


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