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02.10.10 / Eine äußerst späte Liebe / Günter Grass entdeckt seine Passion für die Brüder Grimm und für Deutschland

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-10 vom 02. Oktober 2010

Eine äußerst späte Liebe
Günter Grass entdeckt seine Passion für die Brüder Grimm und für Deutschland

Was für eine Idee! Eine Liebeserklärung an die Brüder Grimm, an ihre Märchensammlung, an ihr Wörterbuch, an die deutsche Sprache, an das ganze 19. Jahrhundert. Diese Epoche ist in letzter Zeit immer mehr Gegenstand von Romanen und Einzeldarstellungen über hervorragende Personen wie Carl Friedrich Gaus und Alexander v. Humboldt und große Frauengestalten wie Bettina von Arnim, Caroline Schlegel und, gerade erschienen, über Rachel Varnhagen von Ense. Alle sind fasziniert von diesem Jahrhundert. Nicht ohne jeweils ihren eigenen Senf dazuzugeben, aber voll unverkennbarer Bewunderung für die endlos lange friedliche und produktive Zeit. Es war ein sehr deutsches Jahrhundert. Und das treibt nun, einigermaßen überraschend, auch Grass um, und das bekennt er in seinem  von ihm selbst mit Vignetten versehenen und aufwendig schön gedruckten Buch „Grimms Wörter – Eine Liebeserklärung“.

Erst nur eine Liebeserklärung an die Brüder Grimm wird das Buch immer deutlicher zu einer Liebeserklärung an die deutsche Sprache – und – die Deutschen. Und Grass ist mächtig stolz, dazuzugehören. Natürlich zum „besseren Deutschland“. Dem Deutschland der berühmten „Göttinger Sieben“, den Professoren, die gegen den hannoverschen König protestierten – auch die Brüder Grimm gehörten zu ihnen und dem Deutschland der Paulskirche, dem Deutschland von Schwarz-Rot-Gold, den Farben der deutschen Burschenschaften, die im Kampf um Freiheit und Einheit des Vaterlands an der Spitze standen.

Die umfassende Belesenheit des 82-jährigen Grass hatte der Dichter der „Blechtrommel“ gewiss noch nicht gehabt, und sie war auch nicht in der Kindheit des Danziger Schülers und Jungvolkjungen angelegt, aber Grimms Märchen haben ihn sicher geprägt wie uns alle: Und die reiche, aus tausend Quellen sprudelnde Sprache, die die Brüder Grimm zusammen mit Hunderten von Zuträgern sammelten, sie aus dem Indogermanischen über Gotisch und Althochdeutsch ableiteten, um sie besser verstehen zu können. Wer das alles nicht in der Schule gelernt hat, und es wird fast in keiner Schule mehr gelehrt, könnte es bei Grass nachlesen.

Für einen großen Wurf ist das Buch zu sehr verspielt, mit allzu viel Selbstgefälligkeit durchsetzt. „Die Brüder Grimm und ich“, könnte fast jeder Abschnitt überschrieben sein. Hielt etwa Jacob Grimm eine Rede vor der Berliner Akademie, wird sogleich die Rede des Autors vor der heutigen Akademie zitiert, der Auftritt Jacob Grimms in der Paulskirche muss der Rede von Grass am selben Ort Platz machen und wenn er die Brüder im Geiste ein Stück ihres Weges begleitet, führt der Weg unweigerlich zu einem Ort, an dem Günter Grass gelebt, geliebt und gelitten hat. Uff, uff, riefen die Rot-häute, mich bewundernd, aus. Von solchen dick aufgetragenen Angebereien strotzt das Buch, und obendrein wird ab und zu der Text von einem Gedicht unterbrochen, eins jener ungelenken Grass-Gedichte, wie sie uns bereits in früheren Werken nervten. Der Lyrik galt schon immer die Liebe des großen Romanschriftstellers, aber es war eine unglückliche Liebe. Und dennoch bleibe ich dabei, was ich 1997 im „Deutschen Narrenspiegel“ schrieb, dass selbst sein schlechtestes Buch immer noch zu den besten Texten seiner Generation zählt. Lesen Sie den Grass. Und freuen Sie sich über die späte Liebe des großen Verächters zu seinem Land.      Klaus Rainer Röhl

Günter Grass: „Grimms Wörter – Eine Liebeserklärung“, Steidl, Göttingen 2010, gebunden, 360 Seiten, 29,80 Euro


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