20.04.2024

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02.10.10 / Der Wochenrückblick mit Hans Heckel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-10 vom 02. Oktober 2010

Der Wochenrückblick mit Hans Heckel
Nur nicht zu nah ran! / Was der Mob mit den »Fremden« macht, warum man aus der Etappe alles besser sieht, und wie wir die Sarrazin-Debatte wegdröhnen

Hatten sie es nicht vorhergesagt? Hatte es etwa an Warnungen gemangelt, die ganze Debatte über Zuwanderer würde letztlich nur dem Mob als Vorwand dienen, es den „Fremden“ mal richtig zu zeigen?

Es war mitten in der bunten Millionenstadt, in der die unterschiedlichsten Kulturen friedlich zusammenleben. In der Straße hatte es schon zuvor verbale Entgleisungen von Alteingesessenen gegeben, die ihren irrationalen Überfremdungsängsten freien Lauf ließen, weil sich immer mehr „Ausländer“ ansiedelten. Man fühlte sich „provoziert“.

Nun die Explosion: In Reaktion auf eine harmlose Kulturvorführung mit viel Kunst gingen 30 junge Alteingesessene auf die Teilnehmer eines multikulturellen Festes los. Die Schläger hatten sich, so die Festveranstalter, im Internet abgesprochen und schon ordentlich gehetzt.

Mit Eisenstangen, Messern, abgebrochenen Flaschen und Pfefferspray jagten sie die Gäste des Festes eine gute halbe Stunde durch den Kiez, bewarfen die Arglosen mit zuvor eingefrorenen Apfelsinen. Die Polizei? Die ließ sich Zeit, ließ den Mob erst mal toben. Erst am nächsten Tag wurden sieben Verdächtige festgenommen, um sie nach ein paar Stunden nur wieder freizulassen.

Wie konnte das passieren? Und: Warum haben die deutschen Medien kaum etwas davon berichtet? Nun, der Schauplatz war nicht Berlin oder Duisburg, es geschah vergangene Woche in Istanbul. Eine Gruppe von Galeristen hatte sich zusammengetan, um in ihrer Straße die Saison gemeinsam bei Bier und Wein zu eröffnen. Dann geschah, was oben beschrieben ist. Das Fest passe nicht zur türkisch-islamischen Kultur, verteidigten sich die Angreifer.

Istanbul ist in diesem Jahr „Kulturhauptstadt Europas“ und die Reportagen über die unzweifelhaft schöne Metropole jagen einander durch unsere Zeitungen und Sender. Istanbul ist dort das Beispiel für die moderne, die weltoffene Türkei, die längst in Europa angekommen sei.

Das so gemalte Bild von Istanbul hat etwas Impressionistisches. Sie kennen sie, die Gemälde aus der Zeit um 1900, die in dieser genialen Tupftechnik entstanden sind: Um sie wirklich schön zu finden, darf man nicht zu nah ran gehen. So ist auch Istanbul vom deutschen Fernsehsessel her viel toleranter und multikultureller als vom Bordstein jener Galeristenstraße aus betrachtet.

Dass man für den korrekten Blick ein wenig Abstand benötigt, daran hat uns vergangenes Wochenende Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit auf dem SPD-Parteitag erinnert. Als höhnischen Hieb auf den anstrengenden Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, lästerte Wowereit, es sei leicht, vor der Neuköllner Rütlischule zu stehen und sich darüber auszulassen, was in den vergangenen 30 Jahren Integrationspolitik alles schiefgelaufen sei. Soll heißen: Richtig Bescheid wissen nur wir hier in der Etappe. Die Frontschweine in den Problembezirken haben doch gar keine Ahnung, was es bedeutet, 30 Jahre lang neue Parolen, Sprachregelungen und Denkanweisungen zu entwerfen und kämpferisch durchzusetzen, damit das Problem unter einem Teppich aus ideologischem Seemannsgarn unsichtbar bleibt.

Der Teppich hat Löcher bekommen, die SPD-Chef Gabriel taumeln lassen. Er schwankt in der langsam auslaufenden Sarrazin-Debatte immer noch zwischen Rausschmeißen und Ranschmeißen.

Erst war erbarmungsloses Rausschmeißen angesagt. Der Sarrazin sollte weg und alle, die seine Thesen für diskussionswürdig hielten, am besten gleich mit. Das waren in der SPD-Basis, erst recht im Volk, aber erschreckend viele. Unverhofft stand Gabriel im Kugelhagel. Das kann den kühlen Taktiker nicht schrecken. Flink machte er kehrt marsch und schmiss sich ran an die Sarrazinisten: „Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen!“ Holla! Wäre dieser Satz einem Roland Koch entfleucht, hätte Gabriel den Kerl wegen seiner „billigen Ausländer-raus-Parolen“ saftig durchgeprügelt.

Das war nur die erste Kostprobe von Gabriels Wandlungsfähigkeit. Auf dem SPD-Parteitag ging es flugs wieder in die andere Richtung: Wenn alles Fördern und Fordern nicht helfe, dann brauche man keine neuen Gesetze, sondern nur die Anwendung der bestehenden, so der SPD-Chef dort. Es besteht also ein Gesetz, nachdem ein Ausländer aus dem Land hinausbefördert werden kann, wenn er sich nicht fördern lassen will? Blödsinn. Warum redet Gabriel dann so ein Zeug? Weil er sich in Berlin in eine neue rot-grüne Koalition hineingeträumt hatte, und die Grünen hören das mit dem Rausschmeißen nicht gern.

Der Gabriel ist wirklich ein Mann für jede Gelegenheit. Notfalls schafft er es, zu einer Sache in fünf Tagen drei verschiedene Meinungen zu haben. Merke: Der Politiker mit „Ecken und Kanten“ ist aus der Mode, heute geht es um Haken und Ösen, in denen sich diejenigen verfangen sollen, die den Redner beim Wort nehmen: „Welches Wort meinen Sie denn? Ich habe zu allem alles mal gesagt!“

Allerdings sollte man fair sein und die Aussagen in ihrem historischen Zusammenhang sehen. Zwischen Gabriels Auftritt als Ausländer-Sheriff und dem als nimmermüder Förderer liegen Tage, in denen viel passiert ist. Hier glühten erste Hoffnungsstrahlen, dass die leidige Integrationsdebatte endlich verebbt – wie immer auf die gleiche Weise: Indem sie von anderen Debatten überdröhnt wird.

Politik ist in Deutschland weniger eine Frage der Lösungskompetenz als der Ausdauer. Man muss schlicht durchhalten können, alles geht vorüber, wenn das neue Thema kommt: Mit den AKW-Laufzeiten, den neuesten Rezepten aus der Gesundheitsküche und zuletzt den „fünf Euro“ sind gleich drei Themen zur Erlösung angetreten.

Nun, neu sind diese Themen auch nicht, aber schon länger nicht mehr so laut gehört. Außerdem gehören sie zu jenem Themenkarussell, das sich seit Jahrzehnten nahezu unverändert durch die Republik dreht.

Das Karussell führt bei unseren Nachbarn zu bizarren Irritationen. Ein Ausländer, der unser Land öfter besucht, beschwerte sich unlängst: In Deutschland verpasse man gar nichts. Selbst wenn er nach jahrelanger Abwesenheit wieder einmal vorbeischaue, stritten sich die Deutschen immer noch über die gleichen Dinge. Nichts bewege sich wirklich.

Was für ein Trottel. Er hat einfach nicht den richtigen Takt raus! Sonst könnte er jedesmal etwas anderes erleben. Stattdessen tritt er immer dann an unser Karussell, wenn ausgerechnet jenes Pferdchen vorbeikommt, das bei seinem letzten Besuch auch gerade zur Stelle war.

In ein paar Jahren wird auch das Sarrazin-Thema, das dann anders heißen wird, wieder vorbeiklappern. Wie beim letzten Mal fragen sich dann alle ganz erstaunt, warum sich in der Zwischenzeit scheinbar gar nichts bewegt hat. Hat es doch – nur eben im Kreis.

Ja, die Zwischenzeit. Die gehört  nicht der öffentlichen Debatte, sondern den Fachleuten, die davon leben, dass die Probleme weiterleben, und zwar möglichst so, wie sie ihrem Berufsbild entsprechen. Beim Integrationsthema sind das Heerscharen von Migrationsforschern und Integrationsbeauftragten, von Islamfunktionären und Migrantenvereinsfunktionären, die nun endlich wieder in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen und neue Mittel beantragen können. Und zwar ohne dass sie von weltanschaulich unpräparierten Bürgern peinlich befragt werden, warum ausgerechnet sie so gar nichts Ehrliches zur Dis-kussion beizutragen haben.

Sie bestimmen bis zum Ende der nächsten Umdrehung wieder allein den Kurs. Und kommen, was Zuschüsse, Planstellen, öffentliche Preise und reputierliche Auftritte angeht, gar nicht schlecht dabei weg.


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