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16.10.10 / Kirgisien am Scheideweg / Wird das Land erste parlamentarische Republik der Region oder krimineller Feudalstaat?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-10 vom 16. Oktober 2010

Kirgisien am Scheideweg
Wird das Land erste parlamentarische Republik der Region oder krimineller Feudalstaat?

Nach dem Sturz des korrupten Gewaltregimes von Präsident Kurmanbek Bakijew im April, den interethnischen Unruhen im Juni im Süden mit 2574 Todesopfern, dem Referendum für die neue Verfassung und Bestätigung der Interims-Präsidentin Rosa Otunbajewa sieht Kirgisien nach den Neuwahlen weiteren Turbulenzen entgegen. Eigentlich hatten die Neuwahlen das Land auf eine demokratische Basis stellen sollen, doch keine der vielen Parteien erhielt am 10. Oktober eine Mehrheit. Gleich mehrere Parteien erzielten zwischen fünf und neun Prozent der Stimmen. Optimisten kommentierten dieses Wahlergebnis mit den Worten, das angeschlagene Land habe die Vielfalt gewählt, Pessimisten befürchten eher, dass die Kirgisen das Chaos gewählt haben, denn eine Regierungsbildung dürfte ganz ohne klare Mehrheiten äußerst schwierig werden.

Der Wahlaufwand war riesig: 2,8 Millionen Wähler, 2298 Wahllokale, 3000 Kandidaten aus 29 Parteien (von insgesamt 148), 26000 Bewaffnete zur Sicherheit, 1500 heimische und 850 ausländische Beobachter zur Kontrolle. 120 Sitze im Parlament waren zu vergeben.

Der Aufwand verbarg die Tatsache, dass kaum jemand die Wahlen ernst nahm – selbst Präsidentin Otunbajewa nannte sie und das Parlament russisch-verächtlich „bardak“ (Bordell). Die Parteien tragen blumige Namen, sind aber zumeist nur Anhang skrupelloser Führer, deren einziges Ziel Bereicherung ist. Charakteristisch für viele ist die erst unlängst gegründete „Ata-Shurt“, in der die Günstlinge des gestürzten Bakijew versammelt sind, die ihn zurückholen und die die neue Verfassung kippen wollen. In Kirgisien wählt man den eigenen Clan, die eigene Volksgruppe, die eigene Region. Das Ergebnis ist nicht Demokratie, sondern parteiliche, interethnische und regionale Konfrontation – in einem bitterarmen Land, das nicht weiß, wie es über den nahenden Winter kommen soll. 

Die Wahl war eine Farce, jedoch war Präsidentin Otunbajewa dafür, möglichst viele Parteien in Wahlhektik und Palaver einzubinden, da sie ansonsten „auf der Straße“ größeres Unheil anrichten würden. Kirgisien weckt Ängste: Sind die Wahlen dort ein „Weg zur Stabilisierung oder eine Bombe für Zentralasien“, fragte noch am 8. Ok-

tober der prominente russische Politologe Sergej Michejew. Dieselbe Frage hatte bereits im Sommer Politiker und Militärs aus Armenien, Tadschikistan, Russland und Kasachstan zu Beratungen und Planspielen vereint. Das kleine Kirgisien – 5,4 Millionen Einwohner – liegt im Visier der Drogen- und Waffenhändler, schürt Feindschaft gegen ethnische Minderheiten (665000 Usbeken, 604000 Russen) und nährt mit über einer Million „gastarbajtery” Unruhe in Russland und im postsowjetischen Raum.

Rosa Otunbajewas große Angst ist, Radikale aus dem nördlichen Bischkek und dem südlichen Osch könnten einen Zerfall Kirgisiens provozieren. Russland rechnet mit einer Aufteilung Kirgisiens unter Usbekistan und Kasachstan. Die Otunbajewa nahestehenden Politiker wollen die Einheit des Landes und erwarten dafür russische Hilfe. Die wird Moskau leisten, finanziell und konzeptionell im Sinne von Otunbajewas Demokratiekonzept. Medwedews Kirgisien-Berater Wladimir Ruschajlo sagte das zu, da sonst die Bakijew-Leute wieder an die Macht kämen und mit ihnen das „Bündnis“ mit den USA, denen man ab 2001 das „Transit Center Manas“ im Norden überließ. Das sähen die Russen, die nahe Manas ihre Flugbasis Kant haben, gern geschlossen, und bei einem Wahlsieg des Otunbajewa-Lagers wird ihnen das gelingen. Den Schaden hätten die USA, die über Manas den Nachschub für ihre Truppen in Afghanistan liefern und noch im Juni 2009 einer jährlichen Mieterhöhung von 18 auf 60 Millionen Dollar zustimmten.

Umgekehrt wird Russland einen zweiten Stützpunkt im Süden fordern und dabei von allen Nachbarn Kirgisiens, die einen Ansturm islamistischer Terroristen fürchten, unterstützt werden. Moskau plant den Aufbau einer UN-gestützten Friedenstruppe in den zentralsasiatischen Staaten, in der der Türkei als gemäßigtem islamischen Land eine Schlüsselrolle zukäme. Kirgisien am Scheideweg: Feudalstaat in den Händer krimineller Clanchefs oder erste parlamentarische Republik der zentralasisatischen Region?Wolf Oschlies


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