19.04.2024

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16.10.10 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-10 vom 16. Oktober 2010

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,      

liebe Familienfreunde,

wie ein roter Faden zieht sich durch viele Briefe, die an unsere „Ostpreußische Familie“ gerichtet sind, das furchtbare Geschehen bei der russischen Okkupation Ostpreußens in den letzten Kriegswochen und den folgenden Monaten. Ausgelöst durch den in Folge 16 veröffentlichten Bericht, den Herr Helmut Priebe im Nachlass seiner Mutter fand, und Informationen über weitere Berichte, die damals aus dem besetzten Nordostpreußen kamen. Den in Folge 34 erwähnten Bericht der Herren Hill, dem früheren Administrator des Gutes Adl. Laukischken, und Studienrat Zimmermann von der Mittelschule am Dom, den uns Herr Hans-Georg Malskies übersandte, habe ich nun von mehreren Seiten erhalten, auch von Herrn Werner Nagel aus Hohenwestedt, er muss also in den ersten Nachkriegsjahren unter den Vertriebenen von Hand zu Hand gewandert sein. Herr Nagel hat aber noch weitere Berichte von Zeitzeugen übersandt, darunter die authentischen Aussagen des Königsberger Sägewerksarbeiters Hermann Matzkowski. Dieser, damals ein bekennender Kommunist, befand sich Ende 1944 im Gefängnis Rhein und musste nach dem Einmarsch der „Befreier“ erleben, welche zahllosen unmenschlichen Verbrechen von den Sowjets an der deutschen Bevölkerung begangen wurden. Hinzu kommt noch ein Kurzbericht über die ärztliche Betreuung auf den Hufen in den ersten drei Nachkriegsjahren, die wir von Herrn Alfred Frank aus Büren, vermittelt von Frau Brigitte Gomolka von der LO-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, erhielten. Ich will versuchen, aus dieser Fülle eine Zusammenstellung der wichtigsten Informationen zu bringen, und glaube, damit dem Verlangen vieler Leserinnen und Leser gerecht zu werden.

Zuerst der Kurzbericht von Herrn Alfred Frank, der zu der ärztlichen Betreuung in den Jahren 1945 bis 1949 in Königsberg Stellung nimmt, allerdings begrenzt auf den Stadtteil Hufen. Er schreibt: „In der Stägemannstraße war eine Ambulanz, in welcher zwei mir bekannte Ärzte Dienst taten. Ein praktischer Arzt namens Wiese oder Wieser machte hin und wieder auch Hausbesuche. Dann gab es noch die Chirurgin Dr. Ursula Breuer, die im gleichen Haus wie ich – Schrötterstraße 41 – wohnte. Im Garten dieses Hauses haben wir drei Verstorbene begraben. Es handelte sich um einen Lehrer der Mittelschule vom Löbenicht namens Timm und den Betriebsmaler im Krankenhaus der Barmherzigkeit, Oskar Wender. Der dritte hier Bestattete war unbekannt. Ich erinnere mich auch an einen Apotheker Gauer, über dessen Verbleib ich leider nichts weiß“. Soweit die Informationen von Herrn Frank, die durch die angegebenen Namen vielleicht für manche Leser wichtig sind.

Für sein sehr ausführliches Schreiben muss ich Herrn Werner Nagel besonders danken, weil er die Kopien der verschiedenen, oft in kaum leserlicher Schrift gehaltenen Originalberichte mit maschinell geschriebenen „Übersetzungen“ versehen hat, das erleichterte mir die Übersicht. Er hatte sie für die Biografie seiner Mutter verwendet, die er nach deren Tod für seine Kinder und Enkel erstellte. In dieses Lebensbild brachte er auch die eigenen Erlebnisse in Ostpreußen und Pommern mit ein, wenn die auch nicht so furchtbar waren wie die in den Berichten geschilderten. Werner Nagel befand sich vom 1. Februar 1945 bis 28. September 1947 auch im Osten, zuerst auf der Flucht, wurde Anfang März in Pommern von den Russen gefangen genommen, einige Wochen später als zu den Kranken zählend in Soldau aussortiert, nach Graudenz gebracht und nach kurzer Haft im Mai „heimgeschickt“ – ohne Papiere! Die hatte man ihm in Graudenz abgenommen – auf Nimmerwiedersehen. Denn alle Bemühungen, wenigstens an die persönlichen Unterlagen heranzukommen, scheiterten bis jetzt, obgleich Moskau ja inzwischen die Archive geöffnet hat. Eine Anfrage über die Ostpreußische Familie erbrachte immerhin den konkreten Hinweis auf den Ort in Pommern, an dem Werner Nagel in Gefangenschaft geriet.

„Heimgeschickt“ also – wohin? Mit einigen ebenfalls entlassenen Landsleuten kam er nach Pr. Holland und geriet dort unter die Fittiche der „Polnischen Verwaltung“. Was er da erlebte, beschreibt Herr Nagel so:

„In Pr. Holland befand sich im Mai 1945 das dortige Johanniter-Krankenhaus unter russischer Kommandantur mit Ärzten besetzt in Betrieb. Ein niederländischer Arzt, der sich unter den Medizinern befand, sollte der Leiter der Gruppe sein. Er hat mich aus dem GPU/MDW-Keller erlöst, in den ich auf eine ganz eigenartige Weise gelangt war. Auch war mir bekannt geworden, dass unter den dort tätigen Ärzten der Chefarzt der Königsberger Kinderklinik sein sollte. Das konnte nur Professor Bamberger, der – das wusste ich aus meiner Tätigkeit als Gutsrendant in Kallen bei Oskar Freiherr v. d. Goltz – 1944 in Compehnen bei Gert und Ursula v. d. Goltz war, als deren Tochter Adele sich durch einen Sturz vom Pferd erhebliche Verletzungen zugezogen hatte. Die persönliche Bekanntschaft ergab sich nun auf ganz einfache Art:

Die zu behandelnden Patienten wurden in einem großen Raum jeweils von einem Arzt in einer Ecke behandelt. Als der niederländische Arzt meine aufgebrochene OP-Narbe an der Hüfte versorgte, fragte er mich nach meiner Herkunft. So konnte ich auch von Kallen und Compehnen berichten, worauf Professor Bamberger sofort zu mir kam und wir uns lange unterhielten. Er wollte auch wissen, ob ich etwas über den Verbleib der Compehner sagen konnte. Nicht lange nach diesem Gespräch sind er und noch eine Ärztin nach Westen gegangen. 1946 war dann bereits ein polnischer Arzt Leiter des Johanniter-Krankenhauses in Pr. Holland-Paslek. Über den Verbleib von Prof. Bamberger weiß ich nichts, konnte auch später der Compehner Baronin, mit der ich ständig in Verbindung blieb, nichts sagen. Auf ihrer Beerdigung in Aumühle im August 2003 gab ich ihr das letzte Geleit und warf ,eine Hand voll Compehner Sand‘ in die Gruft.“

Soviel die persönlichen Erinnerungen von Herrn Nagel, die er ebenfalls als Ergänzung zu den bisherigen Berichten über die medizinische Versorgung der im Nachkriegsostpreußen verbliebenen Menschen sieht. Das ist sie auch, und wir danken ihm dafür. Und auch für die Übersendung des Berichtes der Herren Hill und Zimmermann, den ich als längeren Beitrag vorgesehen habe, und weiterer, in den ersten Nachkriegsjahren gemachter Aussagen wie den bereits erwähnten Bericht des Arbeiters Hermann Matzkowski, in den ich unsern Lesern hier einen Einblick vermitteln will. Er ist vor allem so aufschlussreich, weil er als ehemaliger Kommunist schonungslos die Grausamkeiten der Sowjets aufzeichnet, die er in dem ersten Jahr nach der Eroberung Königsbergs durch die Russen erleben musste. Als Augenzeuge, denn er war einer der zwölf Bezirksbürgermeister von Königsberg.

Hermann Matzkowski, *5. November 1899 in Kreuzberg, Sägewerksarbeiter bei der Firma Richard Anders in Königsberg, wurde im Oktober 1942 wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte gesagt, dass – wenn die Russen kämen – sie alle Nazis totschlagen würden. Er kam in das Gefängnis Rhein, das im Januar 1945 vor dem Russeneinfall aufgelöst wurde. Nach Königsberg entlassen, arbeitete er zunächst noch in der alten Firma, wurde dann zum Volkssturm einberufen, wegen Wehrunfähigkeit aber bald entlassen. Als die Russen am 7. April 1945 Ponarth einnahmen, wo er mit seiner Familie wohnte, wurde er zuerst mit der gesamten Zivilbevölkerung nach Löwenhagen transportiert, dann aufgrund seiner von den Nationalsozialisten verhängten Gefängnisstrafe entlassen, kehrte nach Ponarth zurück und wurde dort nach Meldung bei der Kommandantur sofort als Bezirksbürgermeister eingesetzt. Er berichtet:

„Nach der Einnahme der Stadt wurden die Angehörigen der Partei und Personen, die dem System nahe gestanden hatten, verhaftet und in Lagern in Metgethen, Labiau und Insterburg festgesetzt. Im Mai starben und verschwanden dort infolge Typhus und Genick­schuss mehr als 1500 Mann. Am 20. Juni mussten wir, die zwölf Bürgermeister, als Zeugen einer Massenhinrichtung von über 1000 Menschen auf dem Erich-Koch-Platz in Königsberg beiwohnen, die durch Fallbeil vorgenommen wurden. Nur zwei Mann wurden im letzten Augenblick zu zehn Jahren Zwangsarbeit begnadigt, darunter der Prokurist meiner ehemaligen Firma Anders. Der Kreisleiter von Königsberg, Wagner, Obersturmführer Ohlhorst, Gauleiterstellvertreter Großherr, Obersturmführer Paulat, fast alle Ortsgruppenführer, wurden durch Hängen hingerichtet.“

Hermann Matzkowski berichtet weiter über die katastrophale Ernährungslage, über das Massensterben der Bevölkerung durch Hungertyphus – „die Pest“ genannt –, die täglich 300 Opfer forderte. „Die noch gehen können, holen sich Pferdefleisch aus dem Pferdelazarett. Dieses ist wegen der Willkür und Grausamkeit der Russen mit großen Gefahren verbunden. Von den Frauen kommt nur die Hälfte zurück, während andere vergewaltigt und ermordet werden. Ich selbst habe das mit angesehen! Die Pfarrer Beckmann und Müller, beide wegen Antinazibetätigung früher bestraft, haben von der Kommandantur die Genehmigung erbeten, Kartoffelschalen aus der russischen Küche einzusammeln, sie werden in kleinen Mengen an die Bevölkerung ausgegeben. Kinder unter vier Jahren und alte Leute gibt es in Königsberg nicht. Infolge des großen Sterbens beträgt die Einwohnerzahl nur noch 32000. Von der Richtigkeit dieser Zahlen habe ich mich überzeugen können, da ich als Bürgermeister die Brotkarten ausgeben musste. Am Tag der Roten Armee im November erhielten die Soldaten das Recht der vollkommenen Willkür. Die Männer wurden verprügelt, die meisten Frauen vergewaltigt, so auch eine 71 Jahre alte Mutter, die danach verstarb. Weihnachten wurden die meisten Arbeiter eingesperrt, auch die Bürgermeister“. Obgleich diese ja gewisse Privilegien hatten wie den Eigenanbau von Gemüse und Kartoffeln und 360 Rubel Monatslohn, während selbst ein Arbeiter einen Rubel für 100 Gramm Brot nicht aufbringen konnte, weil er selbst den zugesagten Tageslohn von vier Rubel nicht ausgezahlt bekam. In den ersten Januarwochen 1946 gab es überhaupt kein Brot. Bei einem Besuch Matzkowskis in einem Kinderheim bat ihn Pfarrer Müller, der mit seinem Amtskollegen Beck­mann die Hungerkinder betreute, von den Zuständen zu berichten, wenn seine geplante Ausreise gelingen sollte. Das hat Hermann Matzkowski auch getan, als es ihm endlich gelang, Königsberg zu verlassen. Mit Hilfe eines Eisenbahners, der ihn bis Allenstein mitnahm, wo er von den Polen völlig ausgeplündert wurde, und dann auf den Puffern stehend bis Berlin. Noch ganz unter dem Eindruck des Erlebten verfasste er am 5. Mai 1946 seinen Bericht, den er als eine Art Menetekel ansieht, wie aus seinen Schlussworten ersichtlich ist: „Diese Angaben, der vollen Wahrheit entsprechend, mache ich aus eigenem Antrieb. Ohne hierzu veranlasst zu sein, da ich der Meinung bin, dass wenigstens etwas von den Qualen und dem Leid, das die Bevölkerung im Osten erduldet, an die Öffentlichkeit dringen muss.“ Damals verhallten sie ungehört. Aber sie blieben bewahrt durch diejenigen, die das gleiche Schick­sal erlitten, durch deren Kinder und Enkel. Durch uns!

Eure Ruth Geede


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