24.04.2024

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16.10.10 / Herbstliche Bastelstunde

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-10 vom 16. Oktober 2010

Herbstliche Bastelstunde
von Renate Dopatka

Als er aus dem Bäckerladen trat, tropfte es zwar noch heftig von der Markise, doch zwischen den Wolken lugte bereits die Sonne hervor. Eine kühle, blässliche Spätherbstsonne, die den regennassen Asphalt mit silbrigem Glanz überzog.

Auf seinen Regenschirm gestützt, schaute Heinrich zu den immer grösser werdenden Wolkenlücken hoch. Ein kräftig auffrischender Wind blies durch die Strassen, wühlte im noch verbliebenen Laub der Alleebäume und brachte die letzten Eicheln und Kastanien zu „Fall“.

Es war sein erster Herbst in dieser Stadt, das erste Jahr, das er nicht in der altvertrauten Mietwohnung, sondern im Haus seiner Tochter verlebte. Eigentlich hatte er sich zugetraut, den Haushalt auch nach Elses Tod weiterzuführen, doch Regine wusste ihn letztlich umzustimmen: „Schau Papa, wir haben so viel Platz. Und für mich wäre es eine grosse Beruhigung, dich in meiner Nähe zu wissen. Wenn du mal krank bist, ist sofort Hilfe da!“ Ja, Regine meinte es zweifellos gut mit ihm. Gewissenhaft achtete sie darauf, dass  er pünktlich seine Medizin einnahm, stets frische Wäsche im Schrank vorfand und genau die Kost vorgesetzt bekam, die seinem empfindlichen Magen zuträglich war.

Dabei hatte sie wahrlich schon genug um die Ohren. Es war Heinrich ein Rätsel, wie seine Tochter es schaffte, neben ihrem Halbtagsjob in einer Buchhandlung auch noch Haus und Garten tadellos in Schuss zu halten. Von früh bis spät war sie auf den Beinen, immer bestrebt, alles möglichst perfekt zu machen. Und genau diese Rastlosigkeit war es, die Heinrich Sorge bereitete. Er selbst hätte liebend gern auf pünktliche Mahlzeiten und eine blitzblanke Umgebung verzichtet, wenn dafür öfter Regines Lachen im Haus zu hören gewesen wäre.

Sein Herz zog sich zusammen. Wo war es geblieben, das sorglos-verspielte Mädchen von einst, das so fröhlich an seiner Hand gehüpft war? Das sich vom Anblick in der Sonne funkelnder Regentropfen verzaubern liess und dessen Lächeln den Tag verschönte? Irgendwann im Laufe der Jahre mussten seiner Tochter diese Eigenschaften abhanden gekommen sein.

Die Sonne flutete jetzt in breitem Streifen durch die Allee. Dankbar, dass er den Schirm nicht mehr aufzuspannen brauchte, machte sich Heinrich auf den Nachhauseweg. In seiner Hand balancierte er ein grosses Kuchentablett. „Bring’ uns was recht Gutes zum Kaffee mit“, hatte ihm Regine aufgetragen. Ihr selbst bleib für solche Besorgungen an diesem Tag keine Zeit. Gleich nach dem Mittagesen waren die bestellten Handwerker erschienen und hatten mit ihren Leitern und Farbkübeln der sorgsam gehüteten Ordnung schnell den Garaus gemacht.

Ängstlich bemüht, das Chaos nicht vollständig über sich hereinbrechen zu lassen, wischte und räumte Regine nun pausenlos hinter ihnen her. Bis Mann und Sohn von der Arbeit heimkamen, musste die Wohnung so weit auf Vordermann gebracht sein, dass ein entspanntes Kaffeetrinken möglich war.

Während Heinrich langsam die Allee hinunterschritt, fiel sein Blick auf die in grossen Mengen herumliegenden Eicheln und Kastanien. Einem Impuls Folge leistend, bückte er sich, um eine besonders schöne Kastanie aufzuheben. Die braune Frucht schmiegte sich angenehm in seine Hand und plötzlich überkam ihn die Lust, sich einige Exemplare in die Tasche zu stecken.

Daheim in seinem Zimmer macht sich Heinrich dann fröhlich ans Werk. Was er tat, war höchst kindisch. Aber mit jedem Streichholz, das er als „Füsschen“ in die Kastanie bohrte, wuchs seine Freude an dieser geheimen Bastelstunde. Er hörte nicht, wie die Tür aufging und Regine ins Zimmer trat. Erst als sie eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte er verlegen zusammen.

„Aber Papa, das ist doch Kinderkram!“ schüttelte Regine tadelnd den Kopf. Doch noch während sie dies sagte, strich ihre Hand behutsam über ein aus Eicheln und Kastanien zusammengesetztes Männlein. „Wie schön glatt sie sind, nicht wahr?“, lächelte Heinrich schüchtern. „Ein Meisterwerk der Natur.“ Er sah das Widerstreben im Gesicht seiner Tochter, die Sorge, von unnützen Dingen aufgehalten zu werden. Aber die Selbstvergessenheit, mit der sie diese besondere Ernte des Herbstes betrachtete, ließ ihn hoffen.

Sein Glück hätte nicht vollkommener sein können, als in jenem Augenblick, da sich Regine ungeachtet des Lärmens der Handwerker zu ihm setzte, um seinem Kastanienmännchen das Hütchen einer Eichel auf den Kopf zu setzen. Denn das schelmische Lächeln, das sie ihrem Vater dabei zuwarf, war das des kleinen Mädchens von einst.     Renate Dopatka


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