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23.10.10 / Nur die Wahrheit ermöglicht Versöhnung / Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Charta der Heimatvertriebenen und dem Stuttgarter Schuldbekenntnis

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-10 vom 23. Oktober 2010

Nur die Wahrheit ermöglicht Versöhnung
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Charta der Heimatvertriebenen und dem Stuttgarter Schuldbekenntnis

Die vergangenen Monate brachten zwei Jubiläen historischer Ereignisse, die einer näheren Betrachtung wert sind: Die Charta der Heimatvertriebenen und die Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Am 5. August 1950 wurde in Stuttgart die Charta der Heimatvertriebenen verkündet. Bei der Gedenkfeier des Bundes der Vertriebenen (BdV) zum 60. Jahrestag dieses Ereignisses bezeichnete Bundestagspräsident Norbert Lammert diese Charta als „Gründungsdokument der Bundesrepublik und Voraussetzung für ihre Erfolgsgeschichte“. Die meisten Medien übernahmen diese Einschätzung und sprachen von einem wahren deutschen Wunder. In der Tat war diese Charta eine Absage an eine Radikalisierung der überwiegend noch in erbärmlichen Verhältnissen lebenden vertriebenen Deutschen, sie enthielt den Verzicht auf Rache und Vergeltung sowie die Bereitschaft, durch harte Arbeit am Wiederaufbau Deutschlands und Europas mitzuwirken. Das Recht auf Heimat erhoffte man im Rahmen eines freien und gerechten Europas.

Aber es gab auch Stimmen, die dieser Einschätzung widersprachen. So rügte ein Leserbriefschreiber in der „FAZ“ das Fehlen des Wortes „Versöhnung“ und hält die Stuttgarter Erklärung des EKD-Rates vom 18./19. Oktober 1945 für vorbildlich. Diese Ansicht ist symptomatisch und übersieht, dass das Wort „Versöhnung“ auch in der Erklärung des Rates der EKD nicht vorkommt. Beiden Erklärungen gemeinsam ist aber die Absage an Gewalt und Vergeltung sowie der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker, was doch der Kern einer jeden Versöhnung ist. Die beiden Dokumente unterscheiden sich dadurch, dass in der Charta die in der Erklärung der EKD enthaltene faktische Kollektivschulderklärung fehlt.

Die Schulderklärung der EKD hatte große Folgewirkung und jährte sich in diesen Tagen zum 65. Mal. Sie sollte, wie von Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) gewünscht, die Wiederaufnahme der EKD in die ökumenische Gemeinschaft erleichtern und lief auf die Übernahme der These der Siegermächte von der deutschen Kollektivschuld und ihrer eigenen kollektiven Unschuld, also einer deutschen Alleinschuld, hinaus. Eine derartige Kollektivschuld war aber 1945 so fragwürdig wie heute.

Alsbald nach der Erklärung der EKD hat Karl Jaspers 1946 in „Die Schuldfrage – Von der politischen Haftung Deutschlands“ und noch deutlicher in dem „Nachwort 1962“ dazu (Piper, München 1996) eine differenzierende Untersuchung zu den unterschiedlichen Schuldbegriffen vorgelegt und ist ausführlich auf die historischen Zusammenhänge und die Mitschuld der Sieger eingegangen. Jaspers warnt, es dürfe nicht das religiöse Bekenntnis der Erbsünde „zum Kleide eines falschen kollektiven deutschen Schuldbekenntnisses werden, so dass in unredlicher Unklarheit das eine für das andere steht“. Erinnernswert ist folgende Aussage Jaspers’: „Mancher lässt sich verführen durch sein augenblickliches Daseinsinteresse. Es erscheint ihm vorteilhaft, die Schuld zu bekennen. Der Entrüstung der Welt über das moralisch verworfene Deutschland entspricht seine Bereitwilligkeit zum Schuldbekenntnis. Dem Mächtigen begegnet man durch Schmeichelei. Man möchte sagen, was er zu hören wünscht. Dazu kommt die fatale Neigung, durch Schuldbekenntnis sich besser zu dünken als andere.“ Diese Feststellung ist unverändert aktuell.

Speziell mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis setzte sich vor allem Walter Bodenstein in dem Buch „Ist nur der Besiegte schuldig? Die EKD und das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945“ kritisch auseinander. Er wirft dem damaligen Generalsekretär des ÖRK Willem Adolf Visser ’t Hooft, der während des Krieges alliierter Geheimdienstfunktionär war, vor, die Ökumene in den Dienst der Siegermächte gestellt und das Schuldbekenntnis abgenötigt zu haben. Die Situation des neu gegründeten Rates der EKD beim Empfang der Delegation des ÖRK am 18. Oktober 1945 in Stuttgart war äußerst schwierig: Die Not in Deutschland war ungeheuer, desgleichen der Wunsch nach einer Besserung, nicht zuletzt mit Hilfe anderer Kirchen, vor allem der amerikanischen. Hinzu kam der Zeitdruck. Martin Niemöller, der neben Hans Asmussen vor dem Empfang der Delegation ein vertrauliches Gespräch mit Visser

’t Hooft geführt hatte, gelang die Einfügung des plakativen Satzes „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“ in den von Otto Dibelius verfassten Entwurf. Bodenstein verweist auf die mögliche und dann auch geschehene missbräuchliche politische Interpretation als Kollektivschuldübernahme, die theologische Dürftigkeit und die Mitschuld der Siegermächte. Papst Pius XII. und katholische deutsche Bischöfe haben den Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld zurück­gewiesen. Hätte der Rat der EKD als guter Hirte seiner Gläubigen diese nicht verteidigen sollen? Wichtig ist Bodensteins Hinweis, dass eine dauerhafte, echte Völkerverständigung – also eine Versöhnung – nur auf der Grundlage von Recht und Wahrheit möglich sei, weil geschichtliche Halbwahrheiten und Legenden nicht auf Dauer haltbar seien.

Eine wahrhafte Versöhnung der Völker ist in der Tat nur auf der Grundlage der historischen „Tatsachenwahrheit“ im Sinne von Hannah Arendt und im Rahmen des vollen historischen Kontextes möglich. Andernfalls besteht die Gefahr des Missbrauches des Begriffes Versöhnung.

Der Tag der Heimat 2010 stand unter dem Motto: „Durch Wahrheit zum Miteinander“. Papst Benedikt XVI. übermittelte eine Grußbotschaft an den BdV, in der er betont, dass ein Zusammenleben der Menschen nur auf der Grundlage der Wahrheit gelingen kann. Schon in der Bibel, Joh. 8,32, steht, dass die Wahrheit befreit. In keiner Grußbotschaft wurde die Richtigkeit des Mottos bezweifelt, aber gelegentlich wurde eine einseitige, „politisch korrekte“ Sicht der Geschichte eingeflochten, bei der ein Großteil der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges ausgeblendet wurde und nach der nur Deutschland allein den Krieg verursacht habe. Die Beiträge anderer zum Krieg zu erwähnen, beispielsweise den Pakt der stalinistischen UdSSR mit Deutschland vom 23. August 1939, in dessen geheimem Zusatzprotokoll bereits die künftige Aufteilung Polens vorgesehen war, oder auf polnische Beiträge zu verweisen, wird ohne Rücksicht auf die Tatsachenwahrheit als Überschreiten einer „roten Linie“ verurteilt und tabuisiert. Aber eine Versöhnung setzt Wahrheit, die ganze Wahrheit, voraus.

Die deutschen Vertriebenen haben sich mit dem Verlust ihrer Heimat abgefunden und wollen keine neue Vertreibung. Sie praktizieren längst vor allem auf örtlicher Ebene menschliche Versöhnung. Aber sie erwarten mit Recht, dass ihre Vertreibung von den Vertreiberstaaten als Unrecht anerkannt wird und die deutsche Regierung diesen Standpunkt unterstützt. Das Wort polnischer Bischöfe von 1965: „Wir bitten um Verzeihung und gewähren Verzeihung“, könnte Grundlage einer echten Versöhnung sein. Es war seinerzeit in Polen umstritten und wartet noch immer auf politische Umsetzung. Manche wollen in der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung nur eine selektive Darstellung der Vorgeschichte.

Die halbe Wahrheit ist aber eine halbe Lüge. Versöhnung setzt Wahrheit, Wahrhaftigkeit, voraus. Wer wirkliche, nachhaltige Versöhnung will, muss die ganze Wahrheit wollen, innerdeutsch und gegenüber dem Ausland. Deutsche Politiker irren, wenn sie meinen, mit Nationalmasochismus die Freundschaft von patriotisch empfindenden Nachbarvölkern gewinnen zu können. Man schätzt nur ihre Unterwürfigkeit, die übrigens auch schwerlich mit dem Amtseid nach Artikel 56 und 64 des Grundgesetzes vereinbar sein dürfte. Nur die volle historische Wahrheit befreit und ermöglicht wahre Versöhnung.            Herwig Praxl


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