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06.11.10 / Der Hafen der Ideen / Unter dem Motto »Kultur tut gut« startet das finnische Turku (Åbo) ins Europäische Kulturstadtjahr 2011

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-10 vom 06. November 2010

Der Hafen der Ideen
Unter dem Motto »Kultur tut gut« startet das finnische Turku (Åbo) ins Europäische Kulturstadtjahr 2011

Rache ist süß, auch wenn sie erst nach 200 Jahren kommt. Turku war dem russischen Zaren, der 1809 Finnland von den Schweden erobert hatte, zu westlich, zu schwedisch und zu weit weg. Deshalb verlegte er 1812 den Regierungssitz seiner neuen Provinz nach Helsinki. 199 Jahre später hat Turku „das Rückspiel gewonnen“: Ein Jahr lang firmiert die vielseitige Metropole als Europäische Kulturhauptstadt.

„Turku“, sagt einer, der es wissen muss, „war immer Finnlands Tor nach Europa.“ Mikka Akkanen kümmert sich für die Stadt um die auswärtigen Beziehungen. Ganz Diplomat erzählt er ruhig und bedächtig aus der Geschichte Turkus. An der durch mehr als 20000 Inseln gegen die offene See geschützten Mündung des Aura-Flusses (Aurajaki) entstand die Stadt im 13. Jahrhundert als Handelsplatz mit Hafen. Bald kamen  Händler aus ganz Europa in Finnlands älteste Stadt. Sie kauften Holz und Felle aus den finnischen Wäldern. Dafür brachten sie Salz, Stoffe, exotische Lebensmittel und Wissen. Schon im 13. Jahrhundert entstanden hier die ersten Schulen. Wenig später entstand in Turku Finnlands erste Universität. Mika Akkanen hat sich in Fahrt geredet, schwärmt von seiner Heimatstadt als dem Hafen der Ideen, der viele Neuerungen ins damals rückständige Finnland brachte.

1870 lebten in Turku (schwedisch Åbo) 50 Prozent schwedischsprachige Menschen, heute sind es durch Assimilation und Zuzug nur noch fünf Prozent. Dennoch ist die Stadt offiziell zweisprachig, alle Straßenschilder sind finnisch und schwedisch. Die binationale Prägung war auch ein Argument für die Wahl zur Europäischen Kulturhauptstadt.

Turku ist neben Helsinki Finnlands kreativstes Pflaster. 15 Prozent der Einheimischen studieren an der Universität oder einer der Fachhochschulen. An den Sommerabenden genießen die jungen Leute vor frisch renovierten Bürgerhäusern am Aurajoki in den Straßencafés das Leben. Zwischen Marktplatz und Flussufer reihen sich moderne Bars, Kneipen, Diskos und Clubs aneinander. In einem bunten Laden verkauft Dani Aavinnen schräge Tassen, schrille Klamotten, sachlich-kühle Holzmöbel, Tischdeko und andere Werke des „Designs von der anderen Seite“. Acht junge Designerfirmen vermarkten ihre Produkte unter der gemeinsamen Dachmarke Turku Design Now. Aavinnen zeigt eine große Handtasche mit einem Tragegriff aus Walnussholz. „Den Griff kannst du abschrauben und die Stofftasche dann in der Maschine waschen.“ Praktisch wie die Mützen und T-Shirts aus Bio-Baumwolle oder Helen Opas mitwachsende Kinderkleidung. In ihrer kleinen Werkstatt mit Laden im ehemaligen Arbeiter- und heutigen Künstlerviertel Port Arthur fertigt die 33-Jährige ihre Kinderkollektionen aus Recyclingstoffen.

Zeitlos wollen die Mitglieder von „Turku Design Now“ ihre Werke gestalten. „Wir achten auf Langlebigkeit“, verspricht Dani Aavinnen. Die meisten Designer, die ihre Produkte unter der Dachmarke anbieten, fertigen selbst oder lassen ihre Stücke anderswo in Finnland produzieren.

Brian Keaney hat sein Label „tonfisk (Tunfisch) Design“ vor gut zehn Jahren in Turku gegründet. Zum Studieren war er Anfang der 90er Jahre nach Finnland gekommen, ging anschließend wieder zurück nach Irland und zog dann wieder nach Turku, weil er hier „die nötige Design-Kultur“ mit Messen, Museen und Design-Foren fand.

Zusammen mit zwei Angestellten produziert er am Stadtrand von Turku ausgefallenes Geschirr in Handarbeit. Sein Vater brachte ihn auf die Idee, für Teetassen dünne, abziehbare Holzringe zu entwerfen. „Der hat sich an einer meiner Tassen ohne Henkel die Finger verbrannt“, erinnert sich Keaney lachend.

„Hinter jedem Produkt muss eine ausgefallene Idee stecken“, erklärt der 36-jährige Keramiker sein Prinzip. So erfand er eine Teekanne mit eingebautem Zuckerschälchen, das in einer Aufhängung waagrecht bleibt, wenn man den Tee einschenkt.

In einer ehemaligen Seilerei aus dem 19. Jahrhundert bedrucken zwei junge Designerinnen Stoffe im Siebdruckverfahren: Handarbeit nach selbst entworfenen Mustern. In ihrem Laden können ihnen die Kunden bei der Arbeit zuschauen. „Föry“-Design heißen die leuchtend grün, rot oder rosafarbenen T-Shirts und Stofftaschen mit der Fähre darauf. Die tuckert gleich vor der Haustür regelmäßig zum anderen Ufer des Aura-Flusses und wieder zurück. An Bord: Fußgänger und Radfahrer auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder wieder nachhause. Seit Eisschollen auf dem Fluss im Frühjahr eine Brücke weggerissen haben, fahren noch mehr Leute mit der kleinen Fähre, welche die Designerinnen auf ihren Stoffen verewigt haben.

Der Fluss Aura ist so etwas wie die Lebensader der Stadt, einst der wichtigste Transportweg, heute Vergnügungsmeile mit zahlreichen Restaurant- und Ausflugsbooten. Einige Skipper bieten Touren auf die Inseln vor der Stadt an, zum Beispiel nach Herrankukkara. Ein findiger Unternehmer hat auf der kleinen Insel ein komplettes Fischerdorf nachgebaut: 50 Häuser und Hütten aus zum Teil 200 Jahre alten Brettern und Stämmen, die Gründer Penti Oskari entlang der finnischen Küste gesammelt hat. Mitten drin, vor dem Badesteg an der Ostsee, zwischen Abkühlbecken und Whirlpools unter freiem Himmel zeigt der Chef seinen ganzen Stolz: „Die größte Rauchsauna der Welt.“ Auf den nackten Holzbrettern an den dunklen Wänden des fensterlosen Raums finden bis zu 124 Gäste Platz. In der Mitte heizt ein Feuer zehn Tonnen Steine zwölf Stunden lang auf. Dann öffnet Oskari die Türen, lässt den Rauch abziehen und die Gäste rein. „Der Rauch“, sagt Oskari, „reinigt die Luft. Rauchsaunen sind sauber.“ Drinnen ist es dann rund 60 Grad warm. Es riecht nach erloschenem Feuer, Resten von Qualm. Es ist stockfinster und wohltuend still. Die Stadt ist weit weg jenseits des Meeres, dessen zarte Wellen leise ans Ufer klatschen. Für die meisten Inselbewohner ist Turku mit seinen rund 180000 Einwohnern eine ferne Megacity. Die Fotokünstlerin Renja Leino zum Beispiel braucht für die Reise auf ihre Heimatinsel Korpo mehr als zwei Stunden. Verstreut auf dem Eiland leben nur ein paar Familien. Straßenbeleuchtung gibt es keine. Die Nachbarn sind weit weg. Ihre Inspiration bezieht Renja aus der Natur. Am liebsten sitzt sie unter dem „fantastisch klaren Sternenhimmel“ ihrer Insel. Hier kann sie am besten „darüber nachdenken, was wirklich wichtig ist“ und in aller Stille den Lärm der Welt zu neuen Werken verarbeiten.    R.B. Fishman


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