19.04.2024

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20.11.10 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-10 vom 20. November 2010

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,     
liebe Familienfreunde,

in diesen Tagen zwischen Volkstrauertag und Totensonntag gehen die Gedanken noch stärker zurück zu denjenigen, die nicht mehr unter uns sind. Vor allem, wenn wir nicht an ihre Gräber treten können oder nicht einmal wissen, wo diese sind. Noch immer ist das Schicksal von 1,1 Millionen Soldaten ungeklärt, noch immer erreichen jährlich über 15000 Anfragen die Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) im Berliner Bezirk Reinickendorf, wo 18 Millionen Schicksale dokumentiert sind. Vielleicht liegen hier auch die Angaben über den leiblichen Vater von Horst Ulrich, und der Sohn weiß es nicht, kann es nicht wissen, weil er keine Namen nennen kann. Horst Ulrich bezeichnet sich auch jetzt noch im Rentenalter als „Findelkind“, denn dieses Wort hat sein ganzes Leben bestimmt – bis heute. Und führt ihn nun auf den Weg zu uns, zur Ostpreußischen Familie, in der Horst Ulrich den letzten Hoffnungsträger sieht. Denn eines scheint gewiss zu sein: Horst Ulrich stammt aus Ostpreußen.

Auf der Homepage des heute etwa 68-Jährigen sind die einzigen Anhaltspunkte angegeben, auf die sich seine jahrzehntelange Suche nach seiner Herkunft stützt. Unter www.horst-ulrich.de steht zu lesen: „Suche noch heute Angehörige/Eltern, komme aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Ich bin im Frühjahr 1945 vermutlich aus dem Raum Pillau als Kleinkind nach Westdeutschland in das Kreiskinderheim Kirchwalsede bei Rotenburg/Wümme eingeliefert und dann von der Familie Ulrich adoptiert worden. Name: ,Horst‘ Ulrich (angenommen). Ob der Vorname Horst stimmt, ist nicht erwiesen. Das Geburtsdatum, 25. Mai 1942, wurde geschätzt. Wer kann nach so langer Zeit noch helfen?“

Das waren die einzigen Angaben, die ich von Herrn Ulrich aus Stemmen erhielt, als er sich auf den Rat unseres Landsmannes Dietmar Wrage an mich wandte und mir unruhige Stunden bereitete. Was sollte ich mit diesen wenigen und unsicheren Angaben anfangen? Also griff ich zum Telefonhörer, und ein langes Gespräch mit Herrn Ulrich erbrachte einige neue Ansatzpunkte, mehr aber auch nicht. Aber immerhin die Gewissheit, dass ich es mit einem Menschen zu tun hatte, der in unserer Heimat geboren wurde und das Kind ostpreußischer Eltern ist. Leider hat Horst Ulrich keinerlei Erinnerungen an seine frühe Kindheit, sie setzen erst zur Zeit seiner Adoption ein, die 1947 erfolgte. Man kann annehmen, dass er bei der Einweisung in das Kinderheim in der Nordheide jünger war, als es das später festgesetzte Geburtsdatum schließen lässt. Als das Kind am 11. März 1945 in dem bei Rotenburg gelegenen Heim eintraf, muss es schon längere Zeit unterwegs gewesen sein. Es soll mit einem NSV-Kindertransport von Ostpreußen (Pillau?) über Danzig in den Westen gekommen sein, wie ich beim nochmaligen Nachfassen heraus bekam. Der Junge hatte keine Begleitpapiere, kein Namensschild, nichts was ihn ausgewiesen hätte. Das letzte Kriegsgeschehen überrollte auch die Lüneburger Heide und verhinderte jede Nachforschung. Er soll gesagt haben, dass er mehrere Geschwister habe und erwähnte einen jüngeren Bruder, der noch nicht laufen konnte. Es könnte aber auch sein, dass er damit Kinder meinte, die mit ihm auf dem Transport oder in einem anderen Heim zusammen waren. Ob er sich selber damals „Horst“ genannt hat, ist nicht bewiesen, aber anzunehmen. Der Junge soll oft auf einem Zaunpfahl gesessen und gesagt haben, er hieße Horst und warte darauf, dass man ihn abhole. Das kann darauf hindeuten, dass er dies auch schon früher getan hat.

Nach der 1947 erfolgten Adoption durch das Ehepaar Ulrich aus Rotenburg wurde der Junge unter dem neuen Namen im Suchdienst des DRK geführt, aber auch auf dem 1949 ausgestellten Ermittlungsbogen waren nur die wenigen bekannten Angaben vorhanden. Horst wird 1949 als 1,10 Meter großer Junge von zartem Körperbau, mit braunen Augen und dunkelblondem Haar beschrieben, körperliche Merkmale seien nicht vorhanden, was die Suche nach den leiblichen Eltern natürlich erschwerte. 1963 wurde die Suche eingestellt, da der Adoptivvater meinte, dass sich nun weitere Nachforschungen erübrigten. In der Akte wurde vermerkt, dass die Bearbeitung erst dann wieder aufgenommen werden könnte, wenn sich Horst Ulrich selber um die Klärung seiner Herkunft bemühte. Die erfolgte auf Wunsch des erwachsenen „Findelkindes“ im November 1980. Seit 30 Jahren sucht nun Horst Ulrich nach leiblichen Eltern oder Geschwistern. Es hat Vergleiche mit anderen Kindern aus dem vermuteten Herkunftsland, aus dem Raum Samland, Natangen, Ermland, gegeben, Gen-Analysen wurden erstellt und es gab sogar Frauen, die glaubten, in Horst ihren vermissten Sohn zu finden. Nachforschungen in dem ehemaligen Kinderheim trugen nur zur Verwirrung bei. So meinte eine ehemalige Betreuerin, die Horst ausfindig machte, das Kind sei mit einem Panzer von der Wehrmacht gebracht worden. Eine Namensliste der auf dem Transport befindlichen Kinder, die weiterhelfen könnte, ist nicht mehr vorhanden. Horst blieb bis heute das „Findelkind“ – so wie er auch von anderen Kindern in seinem neuen Lebenskreis gerufen wurde, und das hat sehr geschmerzt, obgleich die Adoptiveltern ihm Geborgenheit gaben.

Das ist also die Geschichte des Findelkindes Horst, eines von den ungelösten Schicksalen verlassener Flüchtlingskinder, in das wir wahrscheinlich auch kein Licht bringen werden. Aber versuchen wollten wir es und haben hiermit den ersten Schritt getan. Vielleicht gibt es Leserinnen oder Leser, die mit diesem oder einem ähnlichen Transport in den We­sten gekommen sind oder sogar auch im Kinderheim Kirchwalsede waren? Wer sich mit Horst Ulrich in Verbindung setzen will, hier ist seine Anschrift: Lemkuhle 5 in 27389 Stemmen, Telefon (04267) 556.

Der Fall beschäftigt mich besonders, weil er mich an ein „Findelkind“ erinnert, dessen Schick­sal ich klären konnte, lange bevor es die Ostpreußische Familie gab. Es war im November 1950, also genau vor 60 Jahren. Ich war damals in der Redaktion der „Landeszeitung für die Lüneburger Heide“ tätig und sollte eine Reportage über ein Lüneburger Kinderheim machen. Es handelte sich vor allem um Flüchtlingskinder, die von ihren Angehörigen getrennt wurden oder die verwaist waren und nun auf eine Adoption warteten. Die Heimleiterin wies auf einen größeren Jungen hin und sagte: „Das ist unser Österreicher, morgen kehrt er in seine Heimat zurück.“ Ich stutzte – Österreicher? Wie kam dies Kind in die Lüneburger Heide? Behutsam näherte ich mich dem Jungen und sah in ein Gesicht, das mir irgendwie vertraut vorkam. Die hellen Augen, das glatte, blonde Haar, das flächige Gesicht – so sahen viele Kinder in meiner Heimat aus. Der Junge wirkte scheu, er antwortete kaum auf meine Fragen, aber ich konnte den wenigen Worten entnehmen, dass es kein österreichischer Dialekt war. Dann kam mir eine Idee. Ich fragte, was er gerne zu Hause gegessen hätte? Klunkermus vielleicht? Er nickte leicht verwirrt. Ich fragte weiter in ostpreußischer Mundart, versuchte Erinnerungen zu wecken, die auf eine vielleicht nur für mich erkennbare Resonanz stießen. Aber schließlich stand für mich fest: Dieses Kind stammt aus Ostpreußen. Ich fragte die Leiterin, warum Werner als Österreicher geführt wurde. Nun, Papiere hätte er nicht, aber das sage er selber, er konnte ja seinen Namen und seinen Wohnort Salzburg nennen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das musste Hohensalzburg im Kreis Tilsit-Ragnit sein. Das ehemalige Siedlungsdorf der Salzburger Einwanderer hieß früher Lengwethen, wurde 1938 umbenannt, ich kannte es, wir hatten dort einmal Verwandte besucht. Diese Erklärung führte dazu, dass Werner zuerst einmal in dem Heim verblieb und ich mit mehreren Artikeln, die auch im Ostpreußenblatt und in einer großen Illustrierten erschienen, nach seiner Familie forschte – die sich schnell fand! Zwar lebten die Eltern nicht mehr – Vater gefallen, die Mutter umgekommen –, aber ein älterer Stiefbruder wohnte in Westfalen. Dort fand Werner sein Zuhause und war glücklich in seiner wieder gefundenen Kindheit, wie ich feststellen konnte, als ich ihn einige Monate später besuchte. – Vielleicht hätte ich auch zur Klärung des kleinen Horst beitragen können, wenn ich ihm damals begegnet wäre. Jetzt soll es unsere Ostpreußische Familie tun!

Wenn wir von diesen Schicksalen lesen, fallen uns die „Wolfskinder“ ein, die bei Kriegsende aus dem Inferno des brennenden, zerstörten Ostpreußen nach Litauen geflüchteten eltern- und heimatlosen Kinder, die damals zwischen zwei und 14 Jahren alt waren. Sie sind dort geblieben und haben – zumeist ohne ausreichende Schulbildung und berufliche Qualifikation – kein leichtes Leben gehabt, aber schwerer als die physische Belastung wirkte die seelische, denn sie fühlten sich jahrzehntelang von Deutschland vergessen. Nicht aber von den Menschen ihrer engeren Heimat, von Ostpreußen, die immer wieder versuchten, Brücken zu schlagen, obgleich alle Bemühungen, finanzielle Hilfe vom deutschen Staat für die Wolfkinder zu erwirken, fehlschlugen. Besonders bemühte sich der langjährige Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Herr Wilhelm von Gottberg, um die Verbindung zu dem baltischen Land, das die damals Herumirrenden auffing und ihnen Bleibe und Nahrung gab – „Wolfskinder“ heißen sie deshalb, und mit dieser Bezeichnung wurden sie für viele Deutsche zum Begriff. Eine besondere Hilfe wurde ihnen aber durch eine in den 90er Jahren gestartete Aktion des damaligen Vorsitzenden der Deutsch-baltischen Parlamentariergruppe, Wolfgang Freiherr von Stetten, mit eigenen und im Freundeskreis gesammelten Spenden zuteil. Die Wolfskinder fassten wieder Mut, und dieser beflügelte den Initiator der Aktion, eine umfangreiche Spendenwerbung ins Leben zu rufen, die den Wolfskindern eine kleine finanzielle Unterstützung sichern sollte, da alle Versuche, eine finanzielle Hilfe vom deutschen Staat zu erreichen, gescheitert waren. Der Titel der Aktion „100 Litas pro Monat“ erklärte das vorgegebene Ziel, diesen Betrag, der etwa 35 Euro entspricht, jedem Wolfs­kind monatlich zukommen zu lassen. Das war bald erreicht, der Festbetrag konnte sogar auf 75 Euro erhöht werden, hinzu kamen noch Sonderzahlungen. Und nun teilte mir Frau Anita Motzkus, die selber Wolfskinder aus ihrem Heimatkreis Gerdauen mit betreut und mit Herrn von Stetten zusammen arbeitet, erfreut mit, dass aufgrund der gestiegenen Spenden der monatliche Betrag auf 100 Euro erhöht werden konnte. Anita Motzkus schreibt: „Zu diesem Erfolg haben mit Spenden und Übernahme von Patenschaften das große Umfeld von Schloss Stetten, zu dem unter anderem Rotarierer und Johanniter gehören, und viele Privatpersonen beigetragen, nicht zuletzt auch unsere Leser und Leserinnen mit zum Teil sehr großzügigen Zuwendungen. Besonders erfreulich sind auch die überraschend hohen Spenden von Einzelpersonen anlässlich von Feiern und Jubiläen. In diesem Jahr hat ein Ehepaar, Bewohner der Residenz Schloss Stetten, ehrenamtlich die Betreuung der Spendenaktion übernommen. Das ist eine große Hilfe und ermöglicht auch weiterhin, jeden gespendeten Euro 1:1 für die direkte Unterstützung einzusetzen.“ Und der Initiator der Aktion, die jetzt eigentlich in „100 Euro pro Monat“ umbenannt werden könnte, ergänzt diese erfreuliche Bilanz mit seinem Dank an die Spender. „Dieses großartige Engagement hat den nun rund 90 Wolfskindern in dem von der Wirtschaftkrise heftig gebeutelten Litauen gut getan“, sagt der heutige Honorarkonsul der Republik Litauen. (Information: Schloss Stetten, 74653 Künzelsau, Telefon 07940/126-0.)

Eure Ruth Geede


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