19.04.2024

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04.12.10 / Gebrochene Versprechen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-10 vom 04. Dezember 2010

Gebrochene Versprechen

Hatte der türkische Ministerpräsident Recep Tayipp Erdogan noch zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode 2007 eine Öffnung zu den Aleviten in Aussicht gestellt, so kann dies aus heutiger Sicht getrost als Wahlkampfgetöse zum Stimmenfang unter den zirka 20 Millionen (30 Prozent) alevitischen Türken angesehen werden. Erdogan hatte im Wahljahr sogar an einem Festessen anlässlich der aleviteschen Muharrem-Fastenzeit teilgenommen und Schritte zur Gleichstellung der Cem-Häuser mit Moscheen in Aussicht gestellt. Doch die Ernüchterung ließ nicht lang auf sich warten.

„Für alle Muslime ist der gemeinsame Gebetsort die Moschee. In der islamischen Geschichte gab es niemals eine Konfession oder Orden, die sich selbst als Muslime bezeichnet hat und eine Alternative zur Moschee fordert“, verkündete der Sekretär Erdogans, Nazim Ekren, zugleich hätte es in der islamischen Geschichte niemals eine solche Alternative gegeben. Stattdessen wurde unter der Regierung Erdogan mit dem Bau von Moscheen in vorwiegend oder ausschließlich von Aleviten bewohnten Regionen Anatoliens eine „Zwangs-Sunnitisierung“ vorangetrieben. Zwar dürfen die alevitischen Feste in der Türkei gefeiert werden, allerdings offiziell nicht als religiöse, sondern als Folkloreveranstaltungen.

Eine derartige Herabsetzung religiöser Zeremonien kann von deren Anhängern nur als Diskriminierung empfunden werden. Einzig in den Städten Kusadasi in der Provinz Aydin und der Stadt Tunceli wurden durch die Bürgermeisterämter die Cem-Häuser als mit Moscheen gleichberechtigte Kultstätten anerkannt. Während in Moscheen Imame aus Steuergeldern mit Beamtengehältern versorgt werden, ist dies alevitischen Geistlichen weiterhin versagt. M.A.

 

Zeitzeugen

Nesimi Cimen – Der alevitische Volkssänger kam bei dem antialevitischen Pogrom vom 2. Juli 1993 in der türkischen Stadt Sivas ums Leben. Der 1931 geborene Cimen begann bereits in der Kindheit mit dem Spiel der Saz, einem Saiteninstrument. In den 70er und 80er Jahren avancierte er zum Star der alevitischen Musikszene. Seine Schallplatten erschienen in Deutschland und Europa.

Fazil Say – Der türkische Pianist fiel der türkischen Zensur durch die Regierungspartei AKP zum Opfer. Die Aufführung seiner Oper „Requiem für Metin Altiok“ zu Ehren eines Opfers des Brandanschlages von Sivas 1993 wurde auf persönliche Intervention von Ministerpräsident Erdogan im Jahr 2003 zuerst verhindert, konnte dann aber nach Textstreichungen aufgeführt werden. Aus Kreisen der Regierungspartei AKP wurde Erdogan mit den Worten zitiert: „Wir wollen nicht daran erinnert werden.“

Ismail Besikci – Der türkische Soziologe (71) vertritt die Ansicht, dass das Alevitentum eine eigenständige und vorislamische Religion sei. Erst im 20. Jahrhundert sei politisch motiviert versucht worden, das Alevitentum dem Islam einzuverleiben. Besikci, der sich in seinen Arbeiten auch intensiv mit der Kurdenproblematik auseinandergesetzt hat, wurde in der Türkei zu insgesamt 100 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen 17 Jahre vollstreckt wurden. 32 seiner 36 Bücher waren oder sind in der Türkei verboten.

Hadschi Bektasch Wali – „Was Du suchst, findest Du in dir selbst, nicht in Jerusalem oder Mekka“, lautet ein Spruch des Mystikers (etwa 1209−1295). Obwohl es unter Historikern verschiedene Auffassungen über sein Leben und Wirken gibt, gilt unter Aleviten seine Abstammung aus der Familie des Propheten Mohammed als sicher. Der Mystiker (Sufi) soll den alevitischen Glauben vereinheitlicht und in Anatolien verbreitet haben. Der nach ihm benannte Bektaschismus ist von Humanismus, Tolereanz und Liberalität geprägt. Alljährlich im August finden in der türkischen Stadt Hacibektas ihm zu Ehren religiöse und kulturelle Feiern statt.


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