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11.12.10 / Japan in der demographischen Falle / Hohe Lebenserwartung, wenig Geburten: Der Perfektionismus einer reichen Gesellschaft belastet die Familie

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-10 vom 11. Dezember 2010

Japan in der demographischen Falle
Hohe Lebenserwartung, wenig Geburten: Der Perfektionismus einer reichen Gesellschaft belastet die Familie

Im einstigen asiatischen Wirtschaftswunderland zählt Fleiß zwar bis heute zu den großen Tugenden, doch der Familiensinn wurde vom Indivdualismus abgelöst. Die ökonomischen Folgen belasten die Gesellschaft nun schwer.

Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 85,5 Jahren (für den Jahrgang 2007) ist nicht nur die Lebensführung der meisten Japaner einigermaßen vorbildlich. Auch die Sozial- und Gesundheitspolitik muss einiges richtiger machen als die der meisten anderen Industriestaaten mit einem ähnlichen Entwicklungsstand und einer wesentlich geringeren Lebenserwartung, die andernorts für vermeidbares frühes Leiden und Siechtum, reduzierte Lebenschancen, das Unglück der betroffenen Familien und den Ausfall produktiver Arbeiter verantwortlich ist.

Dabei ist Japan kein umfassender Wohlfahrtsstaat. Die Hypothese liegt deshalb nahe, dass die verbliebenen Härten gegenüber arbeitsfähigen Arbeitslosen und die weitgehende Verweigerung von Frührenten gerade die Vitalität und den Lebenswillen vor allem der Männer, die sich primär über den Beruf definieren, stärkt – während in Europa ein arbeitsloses Mindesteinkommen und ein erodiertes Selbstwertgefühl diese schädigen.

Soziales Denken, das nationaler Solidarität entsprang, war der paternalistischen Denkart der Meiji-Reformer nicht fremd. Schon früh wurden staatliche Hilfen für alleinstehende Arme, Altersrenten für Kriegsinvalide und Waisenrenten für Hinterbliebene eingeführt. Seit 1911 gibt es Entschädigungszahlungen für die Opfer unverschuldeter Arbeitsunfälle. 1922 begann man mit einer gesetzlichen Krankenversicherung für Arbeiter in Industrie und Bergbau, die 1936 auf Bauern, Selbständige und Rentner ausgeweitet wurde.

Im Prinzip deckt das gesellschaftliche Sicherungssystem alle großen Lebensrisiken im Fall von Krankheiten, Alter, Arbeitslosigkeit, beruflichen Unfällen und Pflegebedürftigkeit ab. Dabei setzt das japanische Modell stärker als Europa auf die Selbstverantwortung sowie auf die Solidarität der Familie und örtlichen Gemeinschaft. Obwohl es gegenüber dem Alter relativ großzügig ist, bleibt die Unterstützung bei Sozialhilfefällen und Arbeitslosigkeit bewusst minimalistisch, auch um die „Europäische Krankheit“ demotivierender Sozialstaatsabhängigkeit zu vermeiden. Trotz wiederholter Versuche zur Ausgabenbegrenzung und finanzieller Mitbeteiligungen an den Krankheitskosten leiden die Sozialversicherungssysteme weiter an chronischen Defiziten.

Mit über 1800 betrieblichen Krankenkassen sind die Qualitätsunterschiede der Deckungen beträchtlich. Mit Abstand am besten sind jene der Großbetriebe und des öffentlichen Dienstes für ihre Beschäftigten und deren Familienangehörigen. Es folgt die Pflichtversicherung, in der Klein- und Mittelbetriebe ihre Angestellten und Arbeiter versichern müssen. Die Krankenhäuser selbst leisten in der Regel nur die medizinische Betreuung. Für die Nahrung und die Hygiene des Patienten müssen die Angehörigen in der Regel selbst sorgen. Doch werden angesichts der Beengtheit der häuslichen Lebensverhältnisse kränkelnde ältere Verwandte auch aus geringeren Anlässen in Spitälern deponiert, so dass die Verweildauer dort im internationalen Vergleich sehr lang ist. Das staatliche Gesundheitssystem gilt als chronisch unterfinanziert. Allein die Ausgaben für Ältere machen mehr als ein Drittel aus.

Trotz jener kritischen Anmerkungen sollten die Errungenschaften der japanischen Gesundheitspolitik, die höchste Lebenserwartung und eine der geringsten Säuglingssterberaten der Welt, nicht unerwähnt bleiben. So leben in Japan mehr als 40000 Hundertjährige (2009). Im Jahre 2050 soll es deren bereits nahezu eine Million geben.

Ab 2003 begann man sich der Familienpolitik zuzuwenden, indem man in sinnig benannten „Angel Plans“ Elternurlaube einführte, Firmen dazu aufrief, kinderkompatible Arbeitsplätze und Laufbahnregeln einzurichten und mehr Krippenplätze einzurichten. Bei einer Geburtenrate von 1,25 pro Frau verpufften diese halbherzigen Maßnahme vorhersehbar. Zwar sind finanzielle Anreize ab und einschließlich der Geburt, die Schaffung einer kinderfreundlichen Umgebung, die ausreichende Bereitstellung ganztägiger Krippen und die Geschlechtergleichstellung am Arbeitsplatz mit der Nichtdiskriminierung der Mütter, längst überfällig und sinnvoll, doch ist möglicherweise der anti-familiale Wertewandel der jüngeren Generation soweit fortgeschritten, dass diese Maßnahmen, so sie je energisch umgesetzt werden sollten, schlicht zu spät kommen.

So wird der Ehe- und Kinderwunsch unter jungen Frauen rapide zum Minderheitenprogramm. Je besser ihre Ausbildung und ihr Gehalt, desto höher sind für sie die Opportunitätskosten des Kinderkriegens und der Laufbahnunterbrechung. Der Arbeitsplatz gilt als wertvoller denn die Erziehungs- und Hausarbeit. Oft als Einzelkinder mit reduzierten sozialen Erfahrungen und Kommunikationsmöglichkeiten großgeworden, fehlt es ihnen schlicht an Selbstvertrauen, den eigenen Nachwuchs großziehen zu können, zumal sie sich selbst der Erwartung ausgesetzt sehen, möglicherweise die eigenen Eltern und Großeltern als einziger Erbe und Familiennachfolger pflegen zu müssen.

Vielen jungen Erwachsenen fehlen angesichts vermeintlich mangelnder sozioökonomischer Attraktivität ohnehin die Ehepartner sowie die Finanzen zur Familiengründung. Japan stellt so ein ebenso interessantes wie tragisches Paradox dar. Obwohl die Gesellschaft so reich ist wie nie zuvor in ihrer Geschichte, fühlt sie sich aus materiellen Motiven zum Aussterben verurteilt. Erlebte Sozialisationsmuster bestärken den Trend. Es ist der rigide Perfektionismus seines konformismus- und wettbewerbsorientierten Erziehungswesens, der sozialen Norm der in ihren Kindern erfolgreichen „education mama“, der in ihren Töchtern den dringenden Wunsch weckt, sich den ganzen nervtötenden und unbedankten Aufwand zu schenken. Sie sind aber gleichzeitig auch zu ich-schwach und konformistisch, um sich der Kindererziehung unkonventionell und lebensfreudiger zu nähern und sie ohne Leistungsstress durchzuziehen. So begründet sich absurderweise finis Nipponiae. Albrecht Rothacher


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