29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
25.12.10 / Der verlorene Sohn / Ostpreußin sucht nach ihrem Kind, von dem sie auf der Flucht getrennt wurde / Eine Erzählung von Ruth Geede

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-10 vom 25. Dezember 2010

Der verlorene Sohn
Ostpreußin sucht nach ihrem Kind, von dem sie auf der Flucht getrennt wurde / Eine Erzählung von Ruth Geede

Es war damals in der Zeit nach dem großen Inferno, als das Suchen nacheinander begann, das Hoffen, das Bangen und manchmal auch das Wiederfinden.

Da war eine junge Frau, wir wollen sie Anna Berger nennen, der Name tut nichts zur Sache. Sie war aus der Heimat geflohen und hatte alles verloren: Haus und Hof und Mann und Kind. Der Mann war gefallen, noch in den letzten Tagen in der Heimat war ihr die Nachricht zugekommen, den kleinen Hof hatte sie in Flammen aufgehen sehen. Und den Treck, mit dem sie geflohen war, ereilte bei Elbing das Schicksal. Dort wurde er beschossen, zerrissen, zersprengt. Als die verletzte Frau nach tagelangen Fieberträumen zur Wirklichkeit zurückfand, lag sie im Stroh eines fremden Wagens, der sich durch Sandwege der Mark mahlte. Die erste Frage galt ihrem Kind. Aber niemand hatte es gesehen. Die Menschen, die sie am Grabenrand aufgelesen hatten, waren weiter gezogen, ohne die Reste des Trecks näher zu untersuchen. War das Kind dort geblieben, war es tot, hatte jemand anders es mitgenommen? Es war ein Junge gewesen, knapp über zwei Jahre, das einzige Kind dieser kurzen Kriegsehe. "Hans’che" - rief die Frau immer wieder, als das Fieber sie erneut überfiel. Später hockte sie teilnahmslos im Stroh, nahm und aß, was man ihr reichte. Ihr starres, tränenloses Gesicht war unentwegt zurückgewandt. Irgendwo hörten die Räder auf zu rollen. Man fand eine Scheune, in der man blieb, später eine Stube, dann ein Haus, eine halb zerfallene Kate. Anna Berger blieb bei den Leuten. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Langsam begann sie aus ihrer Starre zu erwachen. Es war ein guter Sommer, sie arbeitete auf den Feldern der Bauern mit den andern, sank abends müde auf den Strohsack in der Kammer, die ihr zugewiesen worden war. Und nur, wenn einer der Mitbewohner nächtens aus seinem tiefen Schlaf erwachte, hörte er wohl ein Weinen und ein Sprechen aus der Kammer hinter der Küche, aber niemand fragte danach. Dann kam plötzlich ein Brief, und der brachte Aufregung in die kleine Kate. Eine Nachbarin, die damals im selben Treck gewesen war, berichtete, dass sie das Kind der Anna Berger lebend und gesund mitgenommen hätte, da sie gedacht hätten, die Mutter sei tot. Irgendwo in Pommern hätten sie den kleinen Hans dann in die Obhut einer betreuenden Organisation gegeben. Sie wüssten nicht mehr, wohin das Kind gekommen sei, aber dass es lebe, sei gewiss. Es war nun Herbst geworden, und die Anna Berger begab sich auf Wanderschaft. Sie ging auf Landstraßen und fuhr in holprigen Wagen mit, drängte sich in Kohlenzüge und stieg heimlich auf die Lastwagen der fremden Soldaten, um weiterzukommen, irgendwohin. Um zu suchen, zu suchen, zu suchen. Bei Winterbeginn kam sie zurück, müde und mit leerem Gesicht. Während die Kälte durch die Mauern kroch, schrieb sie mit klammen Fingern Brief um Brief. Manchmal kam eine Antwort, aber es war nicht die erhoffte. Im Frühjahr ging sie wieder auf Wanderschaft, nicht mehr ziellos wie im Herbst. Sie blickte in viele Kindergesichter, in die Augen der Namenlosen, aber sie suchte vergeblich. Im Sommer und im Frühherbst arbeitete sie wieder auf den Feldern. Die Leute, die sie gerettet hatten, hielten auch weiter die kleine Kammer für sie offen. Anna Berger sparte jeden Pfennig, um schreiben zu können, um im Herbst nach der Rübenernte wieder auf die Suche zu gehen. Auch dieser Winter verging, ohne dass die Hoffnung der Anna Berger auch nur eine Spur festen Boden gefunden hätte. Im Mai - es waren nun schon zwei Jahre nach der Flucht vergangen - kam ein Brief von einer Suchorganisation: In einem Kinderheim im Oldenburgischen befände sich ein etwa vierjähriger Junge, der wohl aus Ostpreußen stamme und von dem nichts bekannt sei als der Vorname: Hans. Und es sei auch nicht sicher, ob es sich bei diesem Namen um den richtigen handele. Wieder fuhr die Anna Berger los. Unter den Kindern, die sie bisher gesehen hatte, waren so viele gewesen, die Hans hießen. Einer sogar Hans Berger - aber es war nicht ihr Junge, sondern ein kleiner Dunkelhaariger mit braunen Augen. Ihr Hans’che war damals ein blonder Kruschelkopf gewesen, mit rundem Gesichtchen und Apfelbacken. Und die Augen - wer hatte solch blaue Augen gehabt wie das Hans’che? Da stand nun das Kind vor ihr, nur eine Türscheibe trennte es von der suchenden Frau. Die Heimleiterin hatte ihr einen Stuhl hingeschoben: "Beobachten Sie zuerst das Kind, Frau Berger. Es kommen so viele, die Kinder werden ganz verwirrt. Nachher können wir zu ihm gehen, wenn Sie meinen, es könnte Ihr Junge sein. Aber wenn Sie kein Zeichen haben, kein Merkmal, das Sie angeben können … es wird schwer sein … Zwei Jahre sind in dem Alter eine lange Zeit." "Zeichen? Merkmal? Mein Hans’che ist so schier gewesen, kein Stellchen, nicht mal ein Muttermal, so ein Anfasserchen …" sagte Anna Berger fast trotzig. "Wir haben auch noch die Kleider von dem Kind da, als es hierher kam. Aber es waren zweifellos nicht mehr die Sachen, die es auf der Flucht gehabt hatte. Es muss irgendwo neu eingekleidet worden sein, die Sachen waren viel zu groß. Hier sind sie!" Die Heimleiterin warf Anna Berger ein Bündel mit Kinderkleidung zu. Die Frau wühlte darin, schob es fast achtlos zur Seite. "Nein, so was hat mein Hans’che nicht getragen!" Sie rückte den Stuhl näher zur Scheibe. Das Kind hatte sich im Spielzimmer von den andern etwas abgesondert, es beschäftigte sich allein mit Bauklötzchen, ganz in das Spiel vertieft. Anna Berger starrte auf das Kind. War das der blonde Kruschelkopf? Kurz geschnitten, dunkelblond, ohne Locken stand das Haar über einem blassen, dünnen Kindergesicht. Nur um das Kinn war eine Rundung da; aber das Hans’

chen hatte Grübchen gehabt, links und rechts vom Mund, tief in den Backen. Und die Hände - oh, was waren die dünn! Nun ja, es gab ja auch wenig zu essen. "Sieh mich mal an!", murmelte die Anna Berger. Als hätte das Kind die Worte vernommen, hob es den Blick zur Tür. Ohne irgendeine Regung sah es in das Gesicht hinter der Fensterscheibe, senkte dann wieder den Kopf zum Spiel. Die Augen! durchfuhr es Anna Berger. Diese blauen Augen! Es könnten Hans’chens Augen sein. Nur größer waren sie und ein wenig grauer und ohne Fröhlichkeit. Was hatte Hans’chen lachen können, wenn die Mutter mit ihm "Kinnwippchen …" spielte. Ja, wie hatten sie gespielt. "Hanske wull riede …" und "So reiten die Herrn …" und "Es kam eine Maus in Bäckerhaus …" Wie stand das alles vor der Anna Berger wieder auf. Die Heimleiterin ist in das Kinderzimmer gegangen. "So, Kinder, wir wollen spielen!", sagte sie. Die Kleinen setzen sich um den alten, runden Tisch zusammen. "Alle meine Entchen …" klingt das Lied auf. Die Kinder klatschen in die Hände. Nur das Kind mit dem Namen Hans macht nicht mit. "Willst du nicht mitsingen?", fragt die Heimleiterin. Der Junge schüttelt den Kopf. "Was willst du denn?" "Pitschke!" sagte der Junge. Die Anna Berger hat es gehört. Sie macht die Tür auf, kommt in das Zimmer. Die Heimleiterin sieht sie fragend an. "Das ist ein Wort, das ich nicht kenne. Er sagt das immer: Pitschke! Das war eines der wenigen Worte, die er sprechen konnte, als er herkam." Anna Berger kniete sich zu dem Jungen nieder. "Meinst dies?", fragt sie und singt mit dünner Stimmer, die ganz heiser ist:

Hanske wöll riede, / hädd doch kein Perdke nich, / Mutter nömmt Zeegebock, / huckd Hanske boaweropp, / loat he man riede, / wo he henwöll … Die Augen des Jungen werden groß. "Pitschke", sagt er, "Pitschke …" und die Anna Berger singt: Hanske wöll riede, / hädd doch kein Perdke nich …

"Hü!" ruft das Kind, "hü, Pitschke!" Und dann fängt es an zu weinen. Es läuft auf die Heimleiterin zu und wirft seinen Kopf in ihren Schoß. Anna Berger kniet da allein auf dem Boden. Ihr Gesicht ist sehr blass. Auch jetzt kann sie nicht weinen.

"Hans’che, mein Hans’che", sagt sie. "Das hat er noch behalten, das vom Pitschke. Er hat ein kleines Peitschchen gehabt, der Vater hatte es ihm im letzten Urlaub geschnitzt. Und wenn wir das sangen, dann hat er immerzu damit geknallt: Hü, Pitschke, hü Pitschke!" Sie erhebt sich und will nach dem Kind greifen, das noch immer nicht aufsieht. "Kriegst ein neues Pitschke, mein Hans’che, ein viel schöneres, mit bunten Bänderchen …" Das Kind sieht die fremde Frau an. Die Hand der Heimleiterin streicht über seinen Kopf. "Langsam, langsam", sagt sie, "auch ein Wiedersehen ist schwer …" Die Anna Berger versteht und nickt. Sie geht aus dem Zimmer. Im Flur bleibt sie stehen und wartet. Was zählen jetzt Minuten, Stunden oder gar Tage, wo die Ewigkeit der Ungewissheit doch eine Grenze hatte? So fand die Anna Berger ihr Kind wieder. Hans Berger ist heute verheiratet. Er weiß nichts mehr von allem. Die Zeit ist darüber hinweg gegangen. Auch Anna Berger ist nicht allein. Sie hat vor einigen Jahren noch einmal einen Mann gefunden. Einen aus ihrer Heimat. Die zweite Ehe blieb kinderlos.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren