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15.01.11 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-11 vom 15. Januar 2011

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,           
liebe Familienfreunde,

wie immer gehen in diesen Januartagen die Gedanken bei denen, die vor nunmehr 66 Jahren vor dem Russeneinfall aus ihrer Heimat flohen oder ihn an Leib und Seele erleben und auch erleiden mussten, verstärkt zurück am Tag wie in der Nacht, im Wachen wie im Traum. Sie lassen sich niemals löschen und zwingen manche älter gewordenen Heimatvertriebenen noch immer oder sogar erst jetzt zur Feder zu greifen, um das Erlebte festzuhalten. Manchmal sind es nur ein paar Zeilen, oft aber auch viele Seiten lang, einige bekomme ich zugesandt, weil die Schreibenden glauben, dass wir sie in unserer Kolumne veröffentlichen könnten. Das bedeutet aber, dass ich sie zuerst einmal lesen muss, und das dauert seine Zeit, weil manche Niederschriften nur schwer leserlich sind und ich ja nur Ausschnitte bringen kann. Im Augenblick bin ich dabei, einen Erlebnisbericht zu bearbeiten, der nicht von Vertriebenen stammt, sondern von einem ehemaligen belgischen Kriegsgefangenen und deshalb besonders eindrucksvoll ist. Zugesandt hat ihn mir Frau Hannelore Müller aus Löhne, die sich zugleich für die Veröffentlichungen bedankt, die wir im letzten Jahr über die „Königsberger Waisenkinder“ brachten, vor allem über ihre gemeinsame Reise nach Königsberg mit der Aufstellung des von ihnen gestifteten Gedenksteines für ihre kleinen Schick­salsgefährten, die dort Hunger und Seuchen zum Opfer fielen.

Frau Hannelore Müller schreibt: „Sie haben uns Königsberger Waisenkinder in der letzten Zeit mit viel Wohlwollen begleitet. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken. Obwohl Sie für uns Ostpreußen viel mehr als ein ,lebendes Lexikon‘ sind, möchte ich Ihnen den beigefügten Text zukommen lassen und hoffe, dass er Ihnen noch nicht bekannt ist. Er stammt von einem belgischen Kriegsgefangenen. Arthur K. aus Brüssel verbrachte die Zeit vor und nach der Kapitulation 1945 in Königsberg. Er beschreibt die damaligen Verhältnisse dort aus seiner Sicht. Es tut mir sehr gut, wie er über die Stadt und ihre Bewohner denkt und berichtet. Ich erhielt diesen Bericht – oder ist es ein Vortrag? – mit den damals noch nicht als Buch erschienenen Deichelmann-Kopien von unserem hiesigen ostpreußischen Buchhändler Prieß. Er stammte aus Lyck, war aber auf verwandtschaftlicher Basis mit Königsberg verbunden. Er brachte mir, die ich mit einem Westfalen verheiratet bin und seit meiner Jugend in Westfalen lebe, Ostpreußen wieder in das Bewusstsein, äußerst intensiv und stark. Woher er diesen Text hatte, weiß ich nicht. Man kann ihn nicht mehr befragen, denn er ist inzwischen verstorben.“

Es ist schon eine außergewöhnliche Dokumentation, 16 eng beschriebene Seiten lang, und je intensiver ich mich mit ihm beschäftige, desto mehr wird mir die Schwierigkeit bewusst, geeignete Stellen für den Abdruck zu finden. Zumal es sich zu bewahrheiten scheint, dass es sich um einen Vortrag handelt, den Arthur K. vor einem deutschen Zuhörerkreis gehalten hat, denn er spricht Heimatvertriebene wie ehemalige deutsche Soldaten an. Fünf Jahre lang lebte der Wallone, der 1940 in deutsche Gefangenschaft geriet, in Ostpreußen. Und wenn er in seinem Bericht von Heimweh spricht, dann hat er es selber als Kriegsgefangener erlebt, aber sein großer Tröster war die ostpreußische Natur. Und diese Stelle habe ich für die heutige Ausgabe herausgesucht:

„Wenn man gefangen ist, wenn man keine andere Bindung mit der äußeren Welt hat, dann tröstet man sich mit der Natur, die Gott geschaffen hat. Dann denkt man, dass die Sonne auch zu Hause, ganz weit, scheinen wird. In demselben Geist sieht man die Wolken, den Mond, den Wind, die Vögel, auch dabei fliegen die Gedanken heim. Ich habe das Glück gehabt, Rauschen, Cranz und Groß-Kuhren zu sehen und dazu auch Storch und Elch, diesen im Gebüsch an der Chaussee von Cranz nach Sarkau. Die Steilküste am Rand des Samlandes: ein unendlicher Himmel mit wunderbaren und wechselnden Farben. Ja, die Natur konnte ein Trost sein für manche Stunden mit Heimweh. Königsberg, wo ich die meiste Zeit gelebt habe, war eine sehr schöne Stadt. Wissen Sie, wenn man fünf Jahre lang in einer Stadt lebt und tätig ist, auch wenn die Bewegungsfreiheit begrenzt ist, hängt man – ohne dass man es weiß – an dieser Stadt. Und es tut wirklich weh, wenn man zusehen muss, wie diese Stadt dann vollständig zerstört wird – durch den Willen von Menschen! Durch Fliegerangriffe, Straßenkämpfe und unendliche Häuserbrände. Erst nach dem Krieg wurde mir bewusst, wie sehr ich an Ostpreußen und seine Bewohner gebunden war.“ Das konnte er auch nach seiner Heimkehr im Mai 1945 feststellen: „Damit war nicht alles fertig und vergessen. Ich habe lange, lange Jahre gebraucht, um mich wieder in Belgien wohl zu fühlen.“ Schon aus diesem kurzen Auszug wird ersichtlich, dass die Ausführungen des ehemaligen Kriegsgefangenen noch für manchen Kurzbeitrag in unserer Familienkolumne gut sind. Zumal er sich auch an Menschen erinnert, die ihm damals sehr geholfen haben. Zuerst aber einmal sehr herzlichen Dank, liebe Hannelore Müller, für die Übersendung dieses außergewöhnlichen Berichtes.

In das Königsberg jener Zeit zurück führten auch die Fragen von Frau Margot Willschinski aus Kassel, die sie uns vor einigen Monaten übermittelte. Mit der Hoffnung auf Erfolg, der sich dann auch einstellte, denn Frau Willschinski bedankt sich nun bei unserer Ostpreußischen Familie für die Zuschriften und Anrufe, die ihr geholfen haben, den Spuren ihrer frühen Kinderjahre in Amalienau und Schönwalde nachzugehen. Die 1938 Geborene war im vergangenen Jahr zum ersten Mal wieder in ihrer Heimatstadt, und seitdem beschäftigen sie viele Fragen, von denen wir einige in der Folge 31 veröffentlichten. Sie betrafen vor allem die Schrötterstraße, in der sie ihre früheste Kindheit verbrachte und von der sie gerne Fotos haben wollte. Aber auch das samländische Schönwalde, in das die Familie evakuiert wurde, als das Haus in der Schrötterstraße dem Bombenhagel zum Opfer fiel. Und wie unsere Familie auf die Suchwünsche reagierte, entnehmen wir Frau Willschinskis Schreiben: „Mit Verspätung aber umso herzlicher möchte ich mich bei Ihnen und der Ostpreußischen Familie für den Suchbeitrag im Ostpreußenblatt bedanken. Ich erhielt darauf Telefonanrufe und Briefe mit Bildern, die den Stadtteil mit der Schrötterstraße zeigten und auch Post mit Bildern und Orientierungshilfen über Schönwalde, sie erweiterten mein Erinnerungsvermögen an unsere Heimat. Alles hat mich sehr erfreut.“ Nur ein Wunsch scheint nicht in Erfüllung gegangen zu sein: Margot Willschinski suchte besonders nach der Familie Willuweit aus Schönwalde, bei der sie 1944 einquartiert war, vor allem nach dem damals 16-jährigen Sohn Helmuth. „Es waren so liebe Menschen und ich hätte gerne gewusst, ob und wie sie überlebt haben“, sagte Frau Willschinski. Aber leider hat sich hier wohl kein Hinweis ergeben, also haken wir heute noch einmal nach. (Margot Willschinski, Mörickestraße 15 in 34125 Kassel, Telefon 0561/874373.)

Auch Frau Margot Tessars aus Backnang denkt oft an die Zeit zurück, die sie als Kind in Ostpreußen verlebte, wenn es auch nur wenige Monate waren, aber sie brachten für das Kind aus Berlin einschneidende Erlebnisse. Und diese Erinnerungen veranlassen sie nun, dem Ehepaar aus der Elchniederung, das sie damals aufgenommen hatte, Dank zu sagen, wenn er vielleicht auch zu spät kommt. Aber er muss einmal ausgesprochen werden, meint Frau Tessars, und sie sagt ihn so herzlich, dass wir ihr Schreiben im Wortlaut bringen wollen.

„Als siebenjähriges Kind wurde ich im Februar 1944 mit meiner Mutter und meinem vierjährigen Bruder von Berlin aus nach Ostpreußen evakuiert. Seit dem Spätherbst 1943 hatten wir fast täglich in Berlin Luftangriffe und zunehmend auch in Wilmersdorf. Wir saßen damals wochenlang fast jede Nacht im dunklen und kalten Keller. Nachdem meine Mutter bei irgendeinem Amt war und uns für eine Evakuierung angemeldet hatte, kamen wir gleich am nächsten Tag raus aus Berlin. Wir sind sehr früh abgefahren und waren wohl erst am Abend auf dem Zielbahnhof, es war jedenfalls schon dunkel. Der Bahnhof war klein, hatte aber einen hell erleuchteten Saal mit weiß gedeckten Tischen. Wir hatten mit solch einem herzlichen Empfang nicht gerechnet und alles war wie Weihnachten für mich, besonders die Helligkeit, da wir ja wochenlang fast nur im Dunkeln gelebt hatten. Es gab Kakao, Wurstbrote, Stollen und vieles mehr. Wir Drei sind dann draußen von einem großen Mann in ein großes Fell gewickelt und in einen Schlitten gesetzt worden. Dann ist er mit uns sehr weit in die Einsamkeit gefahren … Wir kamen auf einen großen Bauernhof, dort wurden wir von der ganzen Familie Bansemir empfangen, sie hatte mit dem Abendessen auf uns gewartet. Wir haben dann ein sehr schönes, großes Zimmer bekommen direkt neben dem Wohnzimmer. Der Hof lag sehr einsam, man konnte auf dem flachen Land in keiner Richtung einen Nachbarn sehen. Leider sind wir dort nur bis April geblieben, dann kamen wir nach Pommern. Meine Mutter hat sich mit der Bäuerin noch ein paar Mal geschrieben. Wahrscheinlich hatte sie ihr nicht unsere Berliner Adresse angegeben – leider. Im September hat dann Frau Bansemir geschrieben, dass sie und die Kinder auch schon weg müssten, weil die Russen näher kämen, die Männer müssten dort bleiben. Wir haben dann den Einmarsch der Russen im Kreis Lauenburg in Hinterpommern erlebt, dann kam das ganze Durcheinander, die Hungerjahre in Berlin … Aber immer haben wir an diese sehr schöne Zeit in Ostpreußen und in Dankbarkeit an diese Menschen gedacht, die damals so vorbildlich gehandelt haben. Seit vielen Jahren habe ich mir vorgenommen, nach ihnen zu forschen. Das Ehepaar, das uns damals aufgenommen hat, wird nicht mehr leben, aber eventuell ihre Kinder, die gleichaltrig mit mir und meinem Bruder waren.“ Und so sucht also Frau Tessars, die damals Margot Schulz hieß, nach Ernst und Gertrud Bansemir und ihren Kindern Lita (Litha) und Lothar aus Hohenberge, Kreis Elchniederung. Der zwölf Kilometer von Kuckerneese entfernte Ort bestand aus mehreren Höfen und gehörte zum Kirchspiel Rauterskirch. Wer etwas über die Familie Bansemir sagen kann, wende sich bitte an Frau Margot Tessars, Lessingstraße 19 in 71522 Backnang (E-Mail: martess@web.de).

Rauterskirch? Da war doch was! Oh ja, sehr viel sogar. Die Bemühungen von Herrn Prof. Dr. Günther H. Hertel, Dresden, um den Erhalt der Kirchenruine von Alt-Lappienen/Rauterskirch und die Dokumentation der Geschichte dieses einzigartigen Gotteshauses, mit dessen Bau 1675 begonnen wurde. Was sich da – und vor allem durch unsere Ostpreußische Familie – ergeben hat, dokumentierte Prof. Hertel auf zehn reich bebilderten Seiten. Aber das ist ihm noch nicht genug, er muss seinen Bericht um neue Informationen, die zum größten Teil aus unserem Leserkreis stammen, ergänzen. Ehe wir diese Dokumentation erhalten, will ich doch etwas vorwegnehmen, was kaum bekannt ist: Die achteckige Kirche hatte noch zwei kleine Schwestern in der Elchniederung in Inse und Skören. Unser Foto zeigt die Kirche in Inse.

Eure Ruth Geede


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