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15.01.11 / Ausgerechnet Ostpreußen / Eine Bayerin machte ihr Landschulpraktikum im Kreis Gumbinnen − überall wurde sie freundlich aufgenommen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-11 vom 15. Januar 2011

Ausgerechnet Ostpreußen
Eine Bayerin machte ihr Landschulpraktikum im Kreis Gumbinnen − überall wurde sie freundlich aufgenommen

Stammtische können eine gute Einrichtung sein: Alle vier Wochen treffen sich die im Raum Wiesbaden ansässigen ehemaligen Hufen-Schüler von Königsberg zu einem meist vergnüglichen Plaudernachmittag. Da mein Mann auch Hufen-Schüler war, nehmen wir ebenfalls daran teil, und ich bin als Süddeutsche sehr herzlich in diesem Kreis aufgenommen worden.

Ich stamme aus Bayern, bin im Raum Augsburg aufgewachsen und fühlte mich immer den Bergen verbunden. Deshalb wollte ich eigentlich einen schwarzhaarigen Bayern, möglichst Bergsteiger, heiraten; bekommen habe ich einen blonden Ostpreußen, dazu Segler.

In Wiesbaden wird natürlich oft von Ostpreußen, von der Heimat gesprochen. Nun habe ich das Glück, nicht nur stumm dabei sitzen zu müssen, wenn Gegenden oder Landstriche zur Sprache kommen. Für mich sind viele Orte nicht nur Namen, die man auf der Landkarte sucht, sondern ich kenne sie aus eigener Anschauung. Selbstverständlich wurde ich erstaunt gefragt, wieso ich so weite Teile Ostpreußens bereist hätte; es sei doch recht ungewöhnlich, da schließlich lange  keine Reisen – zumindest in den nördlichen Teil – möglich waren.

1943, als blutjunge Lehramtsanwärterin hatte ich ein Landschulpraktikum an einer ein- oder zweiklassigen Volksschule zu absolvieren. Von einer Bekannten, die im Arbeitsdienst im Landkreis Gumbinnen war, hatte ich viel Schönes von Ostpreußen gehört. Da ich schon immer sehr reiselustig war, beschloss ich, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und beschaffte mir den Namen des zuständigen Schulrates in Gumbinnen. Ich bewarb mich bei ihm um eine Praktikantenstelle und bekam postwendend eine Zusage. Ich hatte am 15. Juli in Jägersfreude, Post Hochfließ, Landkreis Gumbinnen, meine Stelle anzutreten. Die ersten Schwierigkeiten ergaben sich beim Fahrkartenkauf in Augsburg. Der Schalterbeamte konnte beim besten Willen keinen Ort Jägersfreude finden. Auch über mögliche Busverbindungen von Gumbinnen aus war nichts in Erfahrung zu bringen. Er machte mir den Vorschlag, nur bis Gumbinnen zu lösen, und da würde man mir sicher weiterhelfen können.

Dort angekommen, verlangte ich naiv eine Fahrkarte nach Jägersfreude. Der Bahnbeamte sah mich über die Brille an und fragte freundlich: „Wie hieß der Ort denn früher?“ Nun war es an mir, verwundert zu schauen, denn die Frage sagte mir nichts. Ich kramte meine Papiere heraus und wies sie ihm vor. Aber auch das half uns nicht weiter. Schließlich bat er einen Kollegen, doch einmal ausfindig zu machen, wie der Ort früher hieß, und während der Wartezeit erzählte er mir von der „Umtaufaktion“, nicht ohne vertraulich hinzuzufügen, außer der Post hielte sich fast niemand daran. Im Innern dachte ich, nanu, was ist denn hier passiert? Ich hörte nur heraus, dass 1938 eine solche Aktion stattgefunden habe, war mir aber nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte, denn meine Ohren, an schwäbisch-bayrisches Idiom gewöhnt, hatten Mühe genug, diesen in breitestem  Ostpreußisch hervorgebrachten Erklärungen zu folgen.

Nach kurzer Zeit kam der Kollege wieder und präsentierte einen Zettel mit der Aufschrift: Sodinehlen, Post Augstupönen, Bahnstation Groß-Baitschen. Mein freundlicher Beamter und ich atmeten auf, nun war also geklärt, dass es diesen mysteriösen Ort wirklich gab. Ich bekam meine Fahrkarte, und auf meine Frage, ob von Groß-Baitschen vielleicht ein Bus fahre, bekam ich die Antwort: „Nei, Fräuleinche, da müssen Se dann schon laufen, aber es sind nur sieben Kilometerchens!“ Ich betrachtete mein Gepäck, dachte an die „sieben Kilometerchens“ und entschloss mich dann, dem Schulleiter ein Telegramm zu schicken, meine Ankunft anzukündigen. Darauf fuhr ich getrost nach Groß-Baitschen, in der Hoffnung, es würde sich schon ein Ausweg zeigen. Ich war der einzige Fahrgast, der ausstieg, und von einem „Empfangskomitee“ war nichts zu sehen. Kurzentschlossen deponierte ich mein Gepäck am Bahnhof, ließ mir die Richtung zeigen und tippelte los.

Nach etwa zwei Kilometern kam mir ein zweirädriger Wagen mit einem Schimmel davor entgegen, und es stellte sich heraus, dass es der Schulleiter war, der mich abholen wollte. Und dann kam zum ersten Mal die Frage, die ich vier Monate lang allen Leuten beantworten musste: „Warum, um alles in der Welt, wollen Sie aus Bayern gerade hier Ihr Praktikum machen?“

Ich wurde sehr freundlich aufgenommen, mit Kost und Logis, denn ein Gasthaus mit Fremdenzimmern gab es nicht. Im Haus wohnte auch eine nur wenig ältere Kollegin, die aus Tilsit stammte und mit der ich mich bald recht gut verstand. Ich hospitierte einige Tage in den oberen vier Klassen und sollte dann gemäß dem Ausbildungsplan selbstständig, aber unter Aufsicht des Schulleiters die Klassen führen. Das tat ich dann auch, obwohl ich in der ersten Zeit Schwierigkeiten hatte, die Kinder zu verstehen, aber das legte sich bald, ich hörte ja nichts anderes.

Der Schulleiter war ein sehr einsichtsvoller Mann, der meinte, unterrichten könne ich noch mein Leben lang und überall, aber ob ich so bald wieder nach Ostpreußen käme, sei doch sehr fraglich. Er schlug vor, ich solle zuerst in meiner Freizeit ein wenig die nähere Umgebung erkunden. Dafür stellte er mir sein Fahrrad zur Verfügung, und so gondelte ich fast jeden Nachmittag unter der ortskundigen Führung der jungen Kollegin in immer weiteren Bögen im Land umher.

Dann kamen die Kartoffelferien und wir arbeiteten einen Plan aus, nach dem ich systematisch Ostpreußen erforschen sollte. So führten mich meine ausgedehnten Fahrten mit Bahn, Bus und Fahrrad an den Mauersee, den Spirdingsee, nach Lötzen und Angerburg. Ich machte eine Bootsfahrt auf dem Duz-Kanal, über die „schiefe Ebene“, besichtigte Schlösser und ließ diese unglaublich schöne und friedliche Landschaft auf mich wirken.

Nach den Ferien meinte mein „Gönner“, es lohne sich kaum noch, groß in den Unterricht einzusteigen. Er schlug vor, ich solle mir für den Rest der Zeit Königsberg, die Kurische Nehrung und das nördliche Ostpreußen anschauen. Ich bekam meine Bescheinigung für die volle Zeit des Praktikums und fuhr, mit vielen Empfehlungen versehen, los. Noch heute kann ich dem Mann für diese großherzige Einstellung nicht dankbar genug sein.

Überall wurde ich – als doch immerhin Fremde – sehr herzlich aufgenommen. Auf der Nehrung, in Pillkoppen, war ich untergebracht im Gasthaus „Zur Wanderdüne“. Der Besitzerin, Frau Culbis, musste ich im Atlas zeigen, woher ich kam. Sie sorgte rührend für mich, fuhr mich mit Pferd und Wagen nach Nidden und von dort ins Elchrevier, um mir diese herrlichen Tiere zu zeigen. In Pillkoppen lernte ich ein reizendes Ehepaar aus Danzig kennen. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mir in dieser Form fremd war, wurde ich eingeladen, auf meinem Nachhauseweg bei ihm Station zu machen. Sie haben keine Mühe gescheut, mir Danzig zu zeigen und drängten noch, unbedingt zur Marienburg zu fahren, was ich zum Abschluss auch tat und als Krönung der ganzen Monate empfand.

Damals war es jugendliche Reiselust, die mich veranlasste, all diese Fahrten zu machen: Heute im Rückblick erscheint es mir als Fügung, dieses wunderschöne Land noch kennengelernt zu haben, denn ich bin nie wieder hingekommen. Ich habe auch nirgends auf vielen anderen großen Reisen so viel herzliche Gastfreundschaft erlebt und so viel Hilfsbereitschaft einer Fremden gegenüber. Was mag wohl aus all diesen Menschen geworden sein? Inge Rodin


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