27.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
29.01.11 / Historiker gehen in Stellung / Befreiung oder Okkupation? Medwedew will russlandkritisches Bild der Balten relativieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-11 vom 29. Januar 2011

Historiker gehen in Stellung
Befreiung oder Okkupation? Medwedew will russlandkritisches Bild der Balten relativieren

Die russische Agentur RIA Novosti, die Tageszeitung „Moskauer Nachrichten“ und die Zeitschrift „Russland in der Globalpolitik“ (RGP) wollen die nahe russische Vergangenheit aufarbeiten. „RGP“-Chefredakteur ist der international angesehene Fjodor Lukjanow, der drei Hauptmotive des Projekts nannte: Weil vor genau 20 Jahren, Mitte Januar 1991, in den Baltenstaaten die „Befreiung vom sowjetischen totalitären Monster“ begann, weil sich viele Bürger der UdSSR ihres Staates schämten, und weil Geschichte stets von den Siegern geschrieben wird, in diesem Fall von Stalins einstigen Opfern Litauen, Lettland und Estland, zu denen Russland aus eigenem Unvermögen nie ein unbelastetes Verhältnis fand.

Die Balten leben in geklärten Verhältnissen: Sie proklamierten im Frühjahr 1990 die „Wiederherstellung ihrer staatlichen Unabhängigkeit“, verteidigten diese am 13. Januar 1991 gegen Sowjettruppen – die damaligen Verbrechen der Sowjets am „Wilnaer Blutsonntag“ werden erneut von einer „Arbeitsgruppe“ beim litauischen Generalstaatsanwalt Darjus Valis untersucht. Sie zwangen Moskau zu vertraglichen Anerkennungen ihrer Souveränität und scherten sich ab August 1991 nicht mehr um Moskaus Initiativen, am wenigsten um das postsowjetische Staatenbündnis Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Sie amüsierten sich über den Westen, der sie aus Angst vor dem Kreml lange nicht anerkannte. „Wir wussten eher, dass wir gewonnen hatten“, erinnert sich heute Kazimira Prunskiene, damals erste Regierungschefin des souveränen Litauens.

Die Baltenstaaten gehören seit 2004 zu Nato und EU, was selbst ihre „Nicht-Bürger“, wie man ethnische Russen im Baltikum heißen, genießen, die darum niemals unter Russlands „Verantwortung“ streben. Gegen Moskau hat das Baltikum seine besten Historiker aufgeboten, um „politische und finanzielle Ansprüche an unser Land zu begründen, eine historische Revanche“, wie das russische Außenministerium rügt. In der Tat will das Baltikum ein Eingeständnis russischer Verbrechen seit der Okkupation 1940. Es verlangt den Zugang zu Geheimarchiven, wo die Beweise der Verbrechen lagern, und bei der lettischen Regierung arbeitet eine „Kommission zur Erfassung der Schäden durch das sowjetischen Besatzungsregime“.

Ende Dezember 2010, als der lettische Präsident Valdis Zatlers in Russland zu Besuch war, erstmalig seit 1991, machte der russische Präsident Dmitrij Medwedjew eine halbe Zusage: Man wolle eine gemischte Kommission von Historikern bilden, „die Ereignisse der Vergangenheit analysieren und dafür Zugang zu bisher geschlossenen Archiven bekommen wird“.

Das ist mindestens der fünfte Versuch dieser Art, aber er dürfte scheitern wie seine Vorgänger und an denselben Umständen: Russen wollen die Kommission bei der Akademie der Wissenschaften, Balten bei den Außenministerien ansiedeln, um die politische Brisanz der Problematik zu mindern oder zu steigern. Wenn die Balten historisch korrekt von „sowje-tischer Okkupation“ respektive „Völkermord“ sprechen, verwehren sich Russen gegen solche „Hyperpolitisierung“ und „Emotionalisierung der Fragen“. In Lettland besteht längst ein „Museum der Okkupation“ von 1940, die für Russen offiziell noch immer eine „Befreiung“ des Baltikums ist.

Im Grunde bestehen die ersehnten Historiker-Kommissionen längst, nationale wie die 1998 beim lettischen Präsidenten geschaffene und internationale wie die litauisch-russische oder seit Ende 2010 die russisch-estnische. Diese entspringen aber allein russischem Bestreben, die Gegenseite zu kontrollieren. Seit Monaten verhindern russische Historiker das Erscheinen der Dokumentensammlung „UdSSR und Litauen im Zweiten Weltkrieg“, weil „sie die Reaktionen daheim fürchten“, wie ihre litauischen Kollegen behaupten. Aus bisherigen informellen Treffen russischer und lettischer Historiker soll nun nach dem Willen der Präsidenten Zatlers und Medwedjew eine gemeinsame Kommission werden. Die Letten sind solchen Plänen gegenüber „äußerst skeptisch“, bemerkte der russische Historiker-Papst Aleksandr Tschubarjan, der als einstiges „ausländisches Mitglied“ der lettischen Historikerkommission Einblick hatte: 2005 kam das lettische Werk „Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert“ heraus, das die damalige Staatspräsidentin Vaira Vike Freiberga mit deutlichen Worten über die sowjetische Okkupation eingeleitet hatte. Die Russen empfanden es als „Skandal“, nannten das Buch eine „russophobe Geschichtsfälschung“ und verhängten sogar ein Einreiseverbot gegen die führenden lettischen Historiker. Den Balten kann das egal sein. Sie fühlen sich heute als Sieger über russische Unterdrücker.             Wolf Oschlies


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren