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05.03.11 / Gesprächskreis als Therapie / Späte Hilfe für Opfer von Flucht und Vertreibung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-11 vom 05. März 2011

Gesprächskreis als Therapie
Späte Hilfe für Opfer von Flucht und Vertreibung

Zu einer Informationsveranstaltung über ein neues Programmangebot lud kürzlich das Haus des Deutschen Ostens in München ein. Hinter dem Gesprächskreis „Flucht, Vertreibung, Neuanfang?“, der ins Leben gerufen werden soll, versteckt sich der Anspruch, Hilfen für lebensbewältigende Maßnahmen zu diskutieren, traumatische Erlebnisse im kleinen Kreis aufzuarbeiten und nach dem Sinn individuellen Schick-sals in einer Gemeinschaft Betroffener oder nicht Betroffener zu fragen. An der Sinnfrage entbrannte auch die erste heftige kontroverse Diskussion, die der Initiator und Referent Ulrich Sachweh, Sohn der oberschlesischen Künstlerin und Akademischen Malerin Gerda Sachweh, in den Raum stellte: „Flucht und Vertreibung, ein Neuanfang im kriegszerstörten, fremden Land, das zur neuen Heimat werden sollte – was macht das mit einem Menschen? Ist es persönliches Schicksal, das halt durchlitten werden musste oder lässt sich darin ein Sinn finden – und wenn ja, welcher und wie?“ Der Referent stellte seine Ausführungen unter das Nietzsche-Zitat  „Wenn man ein Wozu im Leben hat, erträgt man jedes Wie.“

Der Direktor des HDO, Dr. Ortfried Kotzian, betonte bei seiner Begrüßung einer großen Runde von Interessenten den therapeutischen beziehungsweise heilenden Ansatz, der in dieser neuen Form erprobt werden soll. Bei jedem schrecklichen Geschehen gebe es heute psychologische Betreuung für Opfer und Zeugen. Damals 1945/46 stellte niemand Hilfen für traumatisierte Flüchtlinge, Vertriebene oder Deportierte zur Verfügung. Der Einzelne war in der Phase der seelischen Bewältigung des schrecklichen Erlebens mit sich selbst allein. Lediglich Kirchen und Hilfsorganisationen versuchten die offensichtliche physische Not zu lindern.

Der Psychotherapeut Ulrich Sachweh meinte, es fände ein für die Betroffenen schmerzlicher gesellschaftlicher Verdrängungsprozess statt, mit dem die Vertriebenen zusätzlich fertig zu werden hätten. Dabei gehe es individuell darum zu analysieren, wie die eigene Situation angenommen wurde, welche „offenen Stellen“ verblieben sind oder ob die eigene Leistung jene Anerkennung erfahre, die ihr gebührt.

In der offenen und sehr spontan und emotional geführten Diskussion über den Wert eines solchen Gesprächskreises, die von der stellvertretenden Direktorin des HDO, Brigitte Steinert, moderiert wurde, betonten Teilnehmer: „Das Thema kommt einfach zu spät.“ Die dauerhafte Unterdrückung des Wissens um das Elend der Eltern und Großeltern führe zu einem Schwel-brand, der immer wieder aufflackert. Ulrich Sachweh betonte, für die eigene Traumabewältigung komme ein Thema nie zu spät. Vielleicht ergebe sich mit größerem zeitlichen Abstand die Möglichkeit, das Thema „lockerer“ anzugehen, mit Leid, Schuld und Opferrolle sachlicher und vor allem „entideologisiert“ zu verfahren. Provokativ fragte eine Teilnehmerin, ob es überhaupt einen „Sinn“ im Vertreibungsgeschehen gebe. Bestimmte Erfahrungen seien nicht kommunizierbar.

Generalisierend kann man natürlich behaupten, meinte Ulrich Sachweh, „alles historische Geschehen um Krieg, Vernichtung, Vertreibung ist gekennzeichnet durch eine allgemeine Sinnlosigkeit. Aber um mit den Verletzungen besser umgehen zu können, die einem der Alltag schlägt, müssen doch einige Fragen gestellt und auch analysiert werden: Was hat das Schicksal für meine Persönlichkeitsentwicklung bewirkt? Was kann ich davon Kindern und Enkeln weitergeben? Wie reagieren die Generationen auf meine eigene Trauerarbeit? Wie lässt sich meine Identität wiederfinden? „Kann man Leiderfahrung konservieren?“

Zwei Stunden wurden unter den Teilnehmern Meinungen ausgetauscht, bevor sich eine beachtliche Zahl von Besuchern der Informationsveranstaltung für eine Mitwirkung am neuen Programmangebot des HDO, dem Gesprächskreis „Flucht – Vertreibung – Neuanfang?“ entschied.   ok


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