20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
12.03.11 / Reichsgründung mit Hypotheken / Italien ist auch 150 Jahre nach der nationalen Einigung noch immer innerlich gespalten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-11 vom 12. März 2011

Reichsgründung mit Hypotheken
Italien ist auch 150 Jahre nach der nationalen Einigung noch immer innerlich gespalten

Italien begeht das Jubiläum seiner Staatsgründung, doch für viele ist das kein Grund zum Feiern. Die Ursachen für die innere Zerrissenheit des Landes wurzeln tief in seiner Geschichte.

„Mit kaltem Herzen“ nähere sich das Land dem großen Jubiläum, beklagte der frühere Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi. Damit meint der Verfassungspatriot weniger die italienischen Bürger, von denen laut Umfragen 80 Prozent gerne das 150-jährige Bestehen ihres Staates begehen, als vielmehr ihre Volksvertreter. Während Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit den gegen ihn anstehenden Gerichtsverfahren beschäftigt ist, boykottieren seine Koalitionspartner von der rechtspopulistischen Lega Nord die Feierlichkeiten. „Wir feiern keinen Zentralismus“, sagte Parteichef Umberto Bossi schroff.

Die Separatisten drängen auf eine Abspaltung des wohlhabenden Nordens vom wirtschaftlich rückständigen Süden. Sie wollen den Mezzogiorno mit seinen mafiösen Strukturen nicht länger durch Milliardeninvestitionen und Subventionsprogramme unterstützen. Die regionalistische Bewegung für Autonomie (MPA) auf Sizilien wendet sich wiederum gegen eine angebliche „Kolonialisierung“ des Mezzogiorno durch den Norden. Auch in Südtirol kommt keine Festtagsstimmung auf. Der Landeshauptmann in Bozen, Luis Durnwalder, erklärte: „Es lebe Italien, das kommt mir niemals über die Lippen.“ Für die „österreichische Minderheit“ gebe es aufgrund der Vertreibung ihrer Landsmänner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Anlass zur Freude.

Das Land ist politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich gespalten. Die innere Zerrissenheit wurzelt tief in der Geschichte. Wie Deutschland gehört Italien zu den modernen Staaten Europas, die erst spät die nationale Einheit erlangten. Bis zum Wiener Kongress 1815 war die Apenninen-Halbinsel regional zersplittert und Spielball europäischer Großmächte. Beeinflusst durch die Ideen der französischen Revolution erstarkten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung. Das gebildete Bürgertum und der fortschrittliche Adel in Norditalien zählten zu den Protagonisten der Einigungsbewegung, des Risorgimento („Wiedererstehung“). Sie teilten sich in die gemäßigten Anhänger einer konstitutionellen Monarchie rund um den Ministerpräsidenten von Sardinien-Piemont, Camillo Benso di Cavour, dem sogenannten italienischen Bismarck mit diplomatisch-taktischem Geschick, sowie in die radikalen Vertreter einer demokratischen Republik rund um den Geheimbündler Giuseppe Mazzini und den Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi. Legendär ist Garibaldis „Zug der Tausend“, bei dem er im Mai 1860 mit gut tausend Freiwilligen die bourbonischen Besatzer auf Sizilien vertrieb.

Am 17. März 1861 rief das Parlament in Turin das Königreich Italien aus. Der erste König, Viktor Emmanuel II. von Savoyen, gilt als Landesvater. An der Seite von Preußen führte Italien 1866 Krieg gegen Österreich und gewann trotz Niederlagen Venetien dazu. Im September 1870 zogen die französischen Truppen aufgrund des deutsch-französischen Krieges aus dem Kirchenstaat ab. Cavours Streitkräfte besetzten daraufhin Rom, das einen Monat später zur Hauptstadt Italiens wurde. Auf dem jungen Nationalstaat lasteten jedoch mehrere Hypotheken, die seine Stabilität gefährdeten.

So handelte es sich keinesfalls um einen Zusammenschluss der unterschiedlichen Landesteile auf gleicher Augenhöhe, sondern um eine Ausbreitung des Königreiches Piemont-Sardinien über den Rest der Halbinsel. Besonders der Süden empfand die Übernahme der piemontesischen Ordnung eher als erneute Kolonisation denn als Befreiung von der Fremdherrschaft. Enttäuscht über die ausgebliebene Agrarreform und die harte Steuerpolitik probte die Landbevölkerung den Aufstand. Der sogenannte Brigantenkrieg zwischen 1860 und 1870 verschärfte die Kluft zwischen dem bürgerlich-industriellen Norden und dem agrarisch-feudalistischen Süden.

Zudem scheiterten die republikanischen Bemühungen um eine verfassunggebende Versammlung. Stattdessen setzten sich ähnlich wie in Preußen die Verfechter der Monarchie durch. Cavour wie Bismarck hatten die nationale Einigung „von oben“ durchgesetzt, nachdem die Einigung „von unten“ im Zuge der 1848er Revolution gescheitert war. Die Bürger fühlten sich von der politischen Elite überrannt. Das geflügelte Wort „Italien haben wir, jetzt müssen wir die Italiener schaffen“ brachte die Schieflage auf den Punkt.

Ferner sah sich der Vatikan durch den Einigungsprozess in seiner Machtstellung bedroht. Die Fronten zwischen der Kirche und der mehrheitlich katholischen Bevölkerung einerseits und der bürgerlich-liberalen Führungsschicht andererseits verhärteten sich. Auch die Liberalen selbst spalteten sich in ein rechtes und ein linkes Lager, die abwechselnd regierten. Allein 59 Kabinette erlebte das Königreich Italien zwischen 1861 und 1922. Zugeständnisse an einzelne Abgeordnete aus der Opposition waren zur Beschaffung parlamentarischer Mehrheiten an der Tagesordnung. Dieser Klientelismus traf vor allem im Süden auf fruchtbaren Boden, wo lokale und familiäre Bindungen staatlichen Institutionen den Rang abliefen. Schließlich mangelte es an einem einheitlichen Sprachbewusstsein, um nationale Identität zu stiften. Aufgrund der Vielzahl regionaler Dialekte und des verbreiteten Analphabetismus setzte sich das Florentinische nur allmählich als Nationalsprache durch. Heute spricht Italien zwar formal eine Sprache. Doch die inhaltlichen Disparitäten offenbaren eine Identitätskrise, zu deren Überwindung es mehr als eines Wörterbuches bedarf.      Sophia E. Gerber


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren