28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
02.04.11 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13-11 vom 02. April 2011

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,
liebe Familienfreunde,

heute Nacht war ich in Königsberg. Ich ging die Königstraße entlang, es war die alte Straße mit ihren Häuserfronten, an denen ich mich vom Roßgärter Markt kommend entlang tastete in Richtung Königstor. Das ich schon sehen konnte, aber ich wollte nicht dorthin, ich wollte in die Augustastraße, wo ich geboren wurde, oder in die Dinterstraße, in der wir zuletzt gewohnt hatten. Aber es war seltsam: Ich fand keine Straße, die abbog, weder die Jägerhof- noch die Lobeck- oder die Ziegelstraße, kein Königseck, keine Wilhelmstraße und erst recht nicht die von mir gesuchten Straßen meiner Kindheit und Jugendzeit. Es war alles wie zugemauert, und das Königstor blieb immer in der Ferne, auch wenn ich weiter ging. Als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, dass meine Füße einen sehr langen Weg gegangen waren.

Es sind die Träume, die immer wieder kommen. Und dann verstärkt, wenn in unserer „Familienpost“ Briefe sind, die von Schicksalen berichten, die mit der verlassenen Heimat verbunden sind. Die kann man nicht so einfach lesen und beiseite legen, auch wenn keine Veröffentlichung gewünscht wird. Da wird so vieles wach und zwingt zum Nachdenken und bestimmt die Träume. Das geht nicht nur mir so, wie ich aus den Reaktionen auf die Erinnerungen, die in die Heimat führen, entnehme. Manchmal ist es nur ein Wort, ein Name, ein Bild, ein Begriff, nach dem gesucht wird – schon ist die Erinnerung da, auch nach 60, 70 oder noch mehr Jahren. Das habe ich auch aus den vielen Zuschriften zu meiner Erzählung von den „Veilchen am Litauer Wall“ zu spüren bekommen, die ich noch immer erhalte. So schrieb mir eine Königsbergerin, die heute in der Schweiz lebt: „Ihre wunderschöne Geschichte hat mich tief berührt. Alles ist auch in mir vorhanden und wurde wieder lebendig. Meine Kindheit war genau so, wie Sie es beschreiben. Vielleicht haben wir als Kinder Kontakt gehabt?“ Kann schon sein, liebe Edith Eckell-Eggert, denn die Straße Ihrer Kindheit, die Altroßgärter Predigerstraße, lag ja auch in Litauer Wall-Nähe. Die Sehnsucht nach der Heimat hat auch das Leben dieser Königsbergerin geprägt, und sie hat ihr schreibend und malend Ausdruck verliehen. In ihrem Buch „Schatten der Sehnsucht“ und in ihren wunderschönen Rosenbildern.

„Wieder hat ein Beitrag von Ihnen in mir Kindheitserinnerungen aufgerührt“, schreibt auch Frau Hanna Büchele aus Backnang. Sie liest erst seit kurzem unsere Zeitung und spontan griff sie zur Feder, als sie Vertrautes in unserer Ostpreußischen Familie entdeckte, denn sie wurde 1920 in Gumbinnen geboren. Als ihr Vater, der Bahnhofsvorsteher Erich Lübberstedt, 1926 nach Königsberg versetzt wurde, war das zuerst ein Schock für die Sechsjährige, denn sie wohnten nun in einer Großstadtstraße, die Gumbinner Garten- und Wiesenfreiheit gab es nicht mehr, aber dafür herrliche Sommerferien in Neukuhren. Schon in ihrem ersten Brief berichtete Frau Büchele ausführlich über ihre Kindheit und Jugend in Ostpreußen, ergänzte ihre Ausführungen dann im zweiten und legte auch einige Wünsche vor. Ich kann leider nur auf einige gravierende Ereignisse eingehen, die vielleicht auch bei anderen Leserinnen und Lesern Erinnerungen wecken. Die junge Hanna wurde zum Kriegsdienst in Lötzen verpflichtet, muss-te in Rastenburg Panzergräben ausheben, kam dann nach Heiligenbeil, wo sie in der Apotheke des Flugplatzes arbeitete. Dann im Februar 1945 Flucht über das Frische Haff nach Pillau, von dort mit einem Handelsschiff nach Gotenhafen, weiter mit der Kriegsmarine nach Swinemünde. Frau Büchele erinnert sich noch sehr genau an einige Episoden aus dieser Zeit, auch an ihre Schulzeit auf dem Körte-Oberlyzeum, die sie 1929 mit dem Abitur abschloss. Von ihren damaligen Mitschülerinnen ist ihr leider nur noch ein Name – Ruth Mai geborene Pickard – in Erinnerung. Vielleicht melden sich jetzt ehemalige Klassenkameradinnen, darüber würde Frau Büchele sich sehr freuen. Auch wenn ein kleiner Wunsch, bei dem ich leider passen muss, aus unserem Leserkreis erfüllt würde. Es handelt sich um eines der damals sehr beliebten Scherzlieder, das Hanna bei ihrer Königsberger Lautenlehrerin lernte: Eine Pellkartoffel liebte einen Hering und schleppte ihn schließlich zum Altar. Refrain: Du böse Pellkartoffel du, lässt den armen Hering nicht in Ruh! Ich kenne nur ein ähnliches Lied, das von dem Hering, der sich – oh Wunder – in eine dicke Flunder verliebt. Na ja, jede Zeit hat ihre Lieder. (Hanna Büchele, Erlenweg 20 in 71522 Backnang, Telefon 07191/88501.)

Und viele Erinnerungen hat auch das Spiel „Gottes Segen bei Cohn“ geweckt. Übrigens habe ich es auch noch bis vor einigen Jahren mit meinen Enkeln gespielt, deshalb konnte ich die Regeln so gut erklären. Dass die stimmen, stellte ich zu meiner Genugtuung fest, als ich in meinem Archiv den Briefwechsel mit einem Leser fand, der mir die Regeln zugesandt hatte – vor 27 Jahren! Herr Pfaehler konnte damals als Quelle das Buch „99 Kartenspiele“ angeben, womit er beweisen wollte, dass das Spiel nicht nur auf Ostpreußen begrenzt war. Er selber hatte es als Kind daheim in Szittkehmen/Wehrkirchen nur zu gerne bei Familienfeiern gespielt, weil die Kinder als vollwertige Partner galten. Für Frau Roswitha Kulikowski gehörte in ihrer Kindheit die Karten-Lotterie zum wöchentlichen „Großelterntag“. Opa Paul Saßnick war Bankdirektor, und so standen Zahlenspiele auf dem Programm, die vier Enkelkinder waren eifrig dabei, denn es gab Belohnungen. Bei der Karten-Lotterie wurde auf jede zugedeckte Karte etwas Süßes gelegt. Es begann mit Zuckerlinsen und führte mit aufsteigenden Werten über Kekse und Bonbons bis zu zum Hauptgewinn, einem Stück Schokolade. Das war für die Kinder damals schon wirklich etwas Besonderes, denn es war ja mitten im Krieg! Als Frau Kulikowski später mit ihren Kindern diese Tradition fortsetzen wollte, stieß sie allerdings auf wenig Gegenliebe. Vielleicht weil sie mit einem einsamen Gummibärchen auf der ersten Karte begann, das war wohl zu mager. Ja, das sind so liebenswerte Erinnerungen, die sich aufgrund einer kleinen Anfrage ergaben.

Und dann lassen wir mal wieder „Heimat schmecken“. Da geht es um das „Judenmus“, nach dem wir auf Wunsch von Frau Irene Sanden aus Bergheim in Folge 5 gefragt hatten. Ein voller Erfolg, denn sie erhielt rund ein Dutzend Faxe, Anrufe und Briefe mit Rezepten. Frau Sanden schreibt: „Seltsamerweise kamen die meisten Rezeptspender aus dem Norden Ostpreußens. Ein Grundrezept schälte sich heraus: Wasser kochen, Mehl mit Wasser zu Klunkern kneten und in das kochende Wasser geben. Pfeffer und Salz zugeben, eventuell Lorbeerblätter, Speck (Spirkel) ausbraten, Zwiebel zugeben und zischend in die heiße Suppe geben. Fertig. Mit Roggenmehl hieß die Suppe Schwarzmus. Als ich das Rezept hatte, wurde ich auch im Doennigschen Kochbuch fündig.“ Frau Sanden besitzt noch dieses klassische ostpreußische Rezeptbuch, nachdem schon unsere Urgroßmütter kochten, in einer Ausgabe von 1923, die ihre Schwiegermutter ihr vererbt hat. Darin fand sie das Rezept als „Buttermus“ (Mehlsuppe), in dem unsere guten ostpreußischen „Klunker“ so fein als „Klümpchen“ bezeichnet werden. Ich wurde dann auch in meiner Nachkriegsausgabe des Doennigschen fündig, und da steht es in zwei Versionen, als „Mehlsuppe“ wie als Roggensuppe mit Speck (Speckmus) verzeichnet. Der Ausdruck „Judenmus“ für dieses einfache, aber sättigende Gericht wurde also nur im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet.

Was Frau Sanden besonders berührte, waren die Gespräche, die sich aus den Anrufen ergaben. Denn es blieb zumeist nicht bei den Rezeptangaben, sondern es kam auch zu einem Austausch der Erinnerungen an die Heimat und das gemeinsame Vertriebenenschicksal. „Wie viel Leid kam da zur Sprache!“, schreibt Irene Sanden. „Und wir mussten damit fertig werden ohne Psychiater oder andere seelische Betreuung. Ich bin übrigens im letzten Zug aus dem südlichen Ostpreußen gewesen, der bei Grünhagen auf einen Lazarettzug fuhr. Wir Flüchtlinge wurden dann anschließend auf den Bahngleisen von den Russen zusammen geschossen. Panzersplitter haben auch mich erwischt.“ Wie bei Frau Sanden, die ja „nur“ nach einem Rezept suchte, genügt ein kleiner Anstoß, um in ein Gespräch zu kommen, das besonders für ältere Menschen wichtig ist.

Auch bei Frau Ilse Conrad-Kowalski war dies der Fall, als sie Antworten zu ihrer Frage nach dem Hotel Germania in Königsberg erhoffte – es blieb aber bisher bei einem nicht auf das Thema bezogenen Anruf, der in einem Gespräch über Heimat und Flucht auslief. Dafür konnte mir die so verlässliche Mitdenkerin wieder einmal helfen, denn sie teilte mir alles über das Kaninchenfutter „Komfrei“ mit, das Frau Dorothea Blankenagel unbekannt war, und mir auch. Unter diesem Namen jedenfalls, denn es handelt sich um den „Gemeinen Beinwell“ oder Schwarzwurz aus der Familie der Borretschgewächse. Seit Hildegard von Bingen als Heilpflanze bei Beinleiden bekannt, weil sie schmerzlindernd, entzündungshemmend und abschwellend wirkt. „Komfrei“ ist die deutsche Schreibweise der

englischen Bezeichnung für das Heilkraut „Comfrey“. Es wurde in Ostpreußen vor allem als Schweinefutter verwendet und ist auch hier in vielen Gärten und wild wachsend zu finden, wie uns Herr Helmut Hermann, der heute am Niederrhein wohnt, mitteilt. Auch im Lübecker Garten von Frau Conrad-Kowalski wächst „Komfrei“, und zwar kräftig, denn er hat tiefe Wurzeln. „Wo Komfrei ist, da ist er“, schreibt sie. „Ich lege die Blätter zwischen die Kartoffeln oder verjauche sie mit Brennnesseln zusammen.“ Auch unser Leser Axel Michaelis aus Dobersdorf meldet sich zu Wort, denn „Komfrei“ hat bei ihm Kindheitserinnerungen geweckt. „Als meine Eltern und Großeltern mit mir nach der Flucht aus Ostpreußen in der Nähe von Kiel strandeten, gelang es ihnen, eine kleine Siedlerstelle zu erwerben. Nun war es eine meiner Aufgaben, Grünfutter für Kaninchen und Schweine zu beschaffen. Ein Teil des Grünfutters kam aus dem eigenen Garten, denn Opa hatte Komfrey gesät. Er kannte die Futterpflanze mit Sicherheit aus Ostpreußen, war in Rhein geboren und machte als Postbeamter in Lötzen und Eydkuhnen Dienst. Unsere Kaninchen bekamen sie allerdings nicht, Opa war der Meinung: Das taugt nuscht. Dem Schwein aber taugte es aber mit Schrot und Kartoffeln gemischt sehr.“ Zu „Seeblättern“ bekam ich bisher keine Informationen, lediglich über das „Wasserblatt“, aber diese Unterwasserpflanze, die auch als Bodendecker verwendet wird, dürfte wohl nicht damit gemeint sein. Warten wir also ab, was uns Frau Blankenagel darüber mitzuteilen hat. Sie sandte mir zwischenzeitlich eine Karte mit dem kurzen Vermerk, dass sie jemand gefragt habe, warum wir so heimattreu seien. Unsere Kinderzeit in Ostpreußen sei doch nur ein geringer Teil unseres Lebens. Ihre Antwort: „Ja, aber mit besten Erinnerungen an unser Zuhause!“

Manche Menschen, auch wenn sie nur eine kurze Rolle im eige-nen Leben spielten, bleiben un-vergessen. Und immer wieder taucht die Frage auf: Was ist wohl aus ihnen geworden? Auch Herrn Konrad Moysich aus Bautzen geht sie nicht aus dem Kopf, und deshalb wendet er sich an uns, obgleich es fraglich ist, ob wir die betreffenden Menschen errei-chen. Denn es handelt sich um eine Berliner Familie, die 1943 nach Ostpreußen evakuiert wur-de, also nur kurz in Ostpreußen war. Allerdings muss ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer ostpreußischen Gastfamilie bestanden haben, sonst würde deren Sohn nicht noch immer nach ihr suchen. Es handelte sich um eine junge Mutter mit zwei Kindern, die Tochter etwa drei bis vier Jahre alt, der Sohn wurde in jener Zeit geboren. Sie waren in Pr. Holland bei der Familie Moysich auf dem Tannenbergplatz 2 einquartiert. Der Familienname war Tomkowiak, das Mädchen hieß Siegrid, der Junge Holger. Der Vater, so vermutet Herr Moysich, war wohl damals als Soldat an der Front, er kam jedenfalls nie zu Besuch, dafür die Großmutter der Kinder. Es müsste sich um die Mutter der jungen Frau gehandelt haben, die ihre Tochter unterstützen wollte, denn sie war mehrmals in Pr. Holland. So, das ist alles, was ich unseren Leserinnen und Lesern als Information anbieten kann. Vielleicht ergibt sich anhand des Nachnamens – Tomkowiak – ein Hinweis. (Konrad Moysich, Wallstraße 12 in 02625 Bautzen, Telefon 03591/41058.)

Eure´Ruth Geede


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren