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16.04.11 / Strahlendes Inferno / Tschernobyl, 26. April 1986: Das »Restrisiko« wird zur Realität

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-11 vom 16. April 2011

Strahlendes Inferno
Tschernobyl, 26. April 1986: Das »Restrisiko« wird zur Realität

Die Katastrophe im sowjetischen Kernkraftwerk ist gleich auf mehrere menschliche Fehler zurück-zuführen. Ein Rückblick:

Die Katastrophe begann pünktlich um Mitternacht: Routinemäßig wechselte im Kernkraftwerk Tschernobyl, in der damals sowjetischen, heute selbständigen Ukraine, das Personal. Schichtleiter Alexander Akomow und seine Leute befinden sich in einer unerwartet verworrenen Situation. Eigentlich hätte schon vor mehreren Stunden in Block 4 des AKW ein größeres Experiment gestartet sein sollen; zuständig (und darauf vorbereitet) wäre die Freitag-Spätschicht und nicht die Sonnabend-Frühschicht gewesen. Gründe für die verhängnisvolle Verzögerung sind bis heute nicht bekannt, offenbar gab es schon seit Tagen eine Serie von Pannen.

Wenige Minuten nach Schichtantritt, am 26. April 1986 um 0.28 Uhr, dann der erste folgenschwere Fehler. Die Reaktorleistung wird viel zu weit heruntergefahren, entgegen allen Vorschriften bei diesem Reaktortyp. Nach vier Minuten versucht der Schichtleiter, den Fehler zu korrigieren. Irrtümlich glaubt er, dies sei ihm gelungen, gibt grünes Licht für das Experiment, um Sekunden später in Panik zu geraten und die Notabschaltung zu aktivieren.

Zu diesem Zeitpunkt hat die Reaktormannschaft die Kontrolle über das Geschehen verloren. Die Brennelemente erhitzen, können aber nicht gekühlt werden, da alle Notsysteme bewusst abgeschaltet sind, um die erhofften Messergebnisse nicht zu verfälschen.

Es gibt erste Explosionen, das als Moderator verwendete Graphit gerät in Brand, die nukleare Kettenreaktion lässt sich nicht mehr steuern, so dass der Reaktor zur Atombombe wird. Das viel zu schwach ausgelegte äußere Reaktorgebäude fliegt davon, extrem hohe radioaktive Strahlung wird an die Außenwelt abgegeben.

Dennoch meldet der Schichtleiter drei Stunden später nach Mos-kau, der Reaktor sei „im Prinzip“ intakt. Radio Eriwan lässt grüßen, der landesübliche Wodka-Konsum reicht als Erklärung für solch unglaubliches Fehlverhalten nicht aus. Immerhin kommt der Schichtleiter nun auf die Idee, Block 3 der Kraftwerkanlage „vorsichtshalber“ abzuschalten. Trotz des „katastrophalen Unfalls“, so die Einstufung auf der INES-Skala (International Nuclear and Radiological Event Scale) der Internationalen Atomenergie-Agentur, bleiben die Blöcke 1 und 2 noch bis zum nächsten Morgen am Netz.

Die verhängnisvolle Melange aus Lügen, Verschweigen und Verharmlosen setzt sich auf allen politischen Ebenen fort. Die örtlichen und regionalen Behörden veranlassen erst nach einem Tag die überfällige Evakuierung der benachbarten Stadt Prypjat, setzen die fast 50000 Einwohner viel zu lange höchster Strahlung aus.

Im Kreml wütete der seit einem Jahr amtierende KP-Chef Michail Gorbatschow intern über „verbrecherische Schlamperei“, hielt sich ansonsten aber an die sowjetamtliche Regel „Es darf nichts nach außen dringen“ (und möglichst auch nichts nach innen). So wurden besorgte Anfragen aus dem Westen, wo bereits extreme Strahlenwerte gemessen wurden, abgewiegelt. Erst am späten Abend des 28. April berichtet TASS vage von einem „Unfall“. Und erst Monate später räumt Moskau ein, welche Dimensionen dieser erste GAU (größter anzunehmender Unfall) in der noch jungen Geschichte der Kernenergienutzung wirklich hatte.

Typisch für den Umgang des Kreml mit unbequemen Wahrheiten: Im Politbüro wurde zwei Monate nach der Havarie parteiamtlich bestätigt, dass der Tschernobyl-Reaktor vom Typ RBMK-1000 längst als bauartbedingt unsicher und unbeherrschbar bekannt war. 25 Jahre danach aber sind bau-gleiche Meiler immer noch in Betrieb, unter anderem nahe St. Petersburg.      Hans-Jürgen Mahlitz


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