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16.04.11 / Vermittler zwischen zwei Welten / In Bremen hilft ein gehörloser Berufsberater Betroffenen bei Problemen am Arbeitsplatz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-11 vom 16. April 2011

Vermittler zwischen zwei Welten
In Bremen hilft ein gehörloser Berufsberater Betroffenen bei Problemen am Arbeitsplatz

Der Berufsberater Kai Wehner ist bundesweit eine Ausnahmeerscheinung: Er ist gehörlos und berät andere Gehörlose bei Problemen mit dem Chef oder den Kollegen.

Bei Kai Wehner im Büro klingelt das Telefon nicht. Es blitzt und lässt einen kleinen Signalgeber in seiner Hosentasche vibrieren. So bekommt der Berufs- und Integrationsberater mit, dass ihn jemand anruft. Zum Telefonieren legt er den Hörer neben das Telefon und schaut auf den daran montierten kleinen Bildschirm. Dort kann er die Gebärden seines Gesprächspartners sehen. Über die ebenfalls auf das Telefon gebaute kleine Kamera beobachtet sein Gegen-über am anderen Ende der Leitung Wehners Antwortgebärden.

Kai Wehner ist gehörlos. Das bedeutet, dass er von Geburt an nicht hören und deshalb auch keine Lautsprache lernen konnte. Und als Gehörloser sei er bundesweit der einzige Berufs- und Integrationsberater, berichtet er. Seit 2003 arbeitet er beim Bremer „Integrationsfachdienst“ (IFD). Die gemeinnützige Dienstleistungsgesellschaft will behinderte und schwerbehinderte Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren und finanziert sich überwiegend aus der sogenannten Ausgleichsabgabe von Betrieben, die nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zahl Schwerbehinderter eingestellt haben. Wehner ist dort inzwischen fest angestellt und berät andere Gehörlose, die Schwierigkeiten an ihrem Arbeitsplatz haben. Auch Arbeitgeber, die Betroffene beschäftigen, wenden sich gelegentlich an ihn. „Aber etwa 70 bis 80 Prozent derjenigen, die sich melden, sind gehörlose Angestellte“, erklärt er. „Viele kommen mit einem Brief vom Arbeitgeber, den sie nicht verstehen.“ Oft sei es dann schon etwas spät, da meist bereits eine Abmahnung vorläge, erzählt Wehner. Die Betroffenen verstünden aber oft nicht, was sie falsch gemacht hätten. In solchen Fällen kann die Beratung und Begleitung schon mal ein paar Monate in Anspruch nehmen. Manchmal erreicht Wehner dann durch Aufklärung, dass eine Abmahnung zurückgenommen wird, weil Missverständnisse ausgeräumt werden können. Aber auch, wenn Wehner dabei unterstützen soll, einen Antrag zu stellen, ist seine zentrale Aufgabe klar: „Ich muss in meiner Beratung sehr viel Schriftsprache in verständliche Begriffe übersetzen.“

Die Hauptursache für Probleme von Gehörlosen am Arbeitsplatz sind Kommunikationsstörungen. Dabei spielt eine Rolle, dass gehörlose Menschen ein deutlich weniger geübtes Text-Lese-Verständnis haben als Hörende. Der Grund: Lautsprache und Schriftsprache sind sehr viel enger miteinander verknüpft als die Deutsche Gebärdensprache (DGS) und die Schriftsprache.

Die Gebärdensprache hat eine eigene Grammatik und ein eigenes Lexikon. „Hörende lesen einen Text und wissen anschließend, was darin steht. Gehörlose, die einen Text lesen, fragen sich danach, was wohl darin stehen könnte“, erklärt Integrationsberater Wehner und setzt hinzu: „Viele Gehörlose haben ungefähr so ein Textverständnis wie Viertklässler.“

Im Alltag lauern zwischen hörenden und gehörlosen Kollegen viele Missverständnisse. Ein Beispiel: Gehörlose nehmen mit großer Selbstverständlichkeit Körperkontakt zu anderen auf, etwa indem sie jemanden antippen oder ihm auf die Schulter klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Hörende empfinden solche Gesten leicht als grob und grenzüberschreitend. Die Reaktion fällt entsprechend unfreundlich aus, der Konflikt ist geboren, aus purem Unwissen auf beiden Seiten. Kai Wehner zufolge haben sich viele Gehörlose in ihrem Alltag daran gewöhnt, nicht alle Informationen mitzubekommen, die ihre hörenden Kollegen erhalten. Also erschließen sie sich den fehlenden Teil aus dem Zusammenhang. Wenn Arbeitgeber ihre Arbeitsaufträge nicht in Gebärden oder mit technischer Unterstützung vermitteln können, laufen sie Gefahr, dass der gehörlose Angestellte die von den Lippen gelesene Information nicht vollständig mitbekommt und versteht. Kai Wehner sieht sich als Vermittler zwischen diesen verschiedenen Erfahrungswelten. Gehörlosen erklärt er, dass sie ihre Arbeitsaufträge nicht „irgendwie“ und „ungefähr“, so wie sie sie verstanden haben, erledigen können, sondern dass sie genau sein müssen, auch indem sie nachfragen. Den Arbeitgebern erklärt er, wie sie Arbeitsaufträge besser vermitteln können, dass es wichtig ist, sich Zeit für Erklärungen oder Nachfragen zu nehmen, und welche technischen Hilfsmittel es zur Verständigung gibt.

Seit die DGS im Jahr 2001 als eigene Sprache anerkannt wurde, haben Gehörlose einen Anspruch auf den Einsatz eines Dolmetschers. Darum erweitern sich allmählich ihre Arbeitsmöglichkeiten. Während ihnen früher nur wenige Berufsfelder offen standen – vor allem im Handwerk, im technischen Zeichnen, Bauzeichnen und in der Vermessungstechnik –, kommen jetzt Arbeitsplätze im Büro hinzu. Es ist möglich geworden zu studieren, sodass sich Gehörlose neue Berufsfelder erschließen. Berufsberater Wehner und der Integrationsfachdienst Bremen schätzen, dass es im Land Bremen etwa 500 Betroffene gibt, die Zahl der Hörgeschädigten sei allerdings wesentlich größer. Deutschlandweit gebe es ungefähr 80000 Gehörlose. Verlässliche Zahlen fehlen jedoch – auch darüber, wie viele Betroffene arbeitslos sind. Dass nicht mehr Gehörlose als professionelle Berater arbeiten, liege keinesfalls daran, dass es keine qualifizierten Betroffenen gebe, betont der IFD-Berater. Er sei vermutlich nach wie vor der einzige, weil die Anstellung eines Gehörlosen grundsätzlich höhere Kosten bedeute: Schließlich benötige auch er immer wieder einen Dolmetscher und diese Kosten müsse der Träger übernehmen. Ulrike Bendrat

Mehr Informationen unter www.ifd-bremen.de


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