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07.05.11 / Der Wink mit dem Schlagbaum / Illegale Zuwanderung: Berlusconi und Sarkozy setzen die Schengen-Staaten unter Zugzwang

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-11 vom 07. Mai 2011

Der Wink mit dem Schlagbaum
Illegale Zuwanderung: Berlusconi und Sarkozy setzen die Schengen-Staaten unter Zugzwang

Die Freiheit, ohne Pass durch 25 Länder reisen zu können, gilt als epochale Errungenschaft. Erstmals seit der Einführung durch den Schengener Vertrag von 1985 droht der grenzenlosen Freiheit der Europäer Gefahr, sollten sich die Regierungen beim EU-Gipfel Ende Juni nicht einigen.

Die europäische Integration sei wie ein Fahrrad: Sie müsse immer weiter voranfahren, sonst falle sie um. Wenn dieses Bild, das sich in den Köpfen zahlreicher europäischer Entscheidungsträger festgesetzt hat, zutreffen sollte, dann steht es schlecht um die weitere Vertiefung der Einheit Europas. Erstmals seit den Anfängen scheint die Integration nicht bloß zu stocken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie in wesentlichen Feldern sogar teilweise rückabgewickelt wird.

Zwei Dinge seien es, an denen die Bürger der EU die Vorzüge der Einheit des Kontinents besonders direkt genießen könnten, heißt es: Am gemeinsamen Geld, das den Umtausch erspare, und am freien Reisen im Raum der Schengen-Staaten. Ausgerechnet in diesen beiden Feldern zeigen sich nun ernste Risse.

Nachdem die Euro-Krise allen Glanz vom „gemeinsamen Geld“ hat abblättern lassen, gerät  auch noch die Reisefreiheit in die Diskussion. Ausgelöst wurde der Streit durch die italienische Regierung, welche Touristenvisa an nordafrikanische Boots-Immigranten vergeben hatte, damit diese möglichst rasch weiterreisen konnten in andere Schengen-Staaten. Bald tauchten die ersten Personen mit solchen Visa in Paris und beim österreichischen Grenzposten am Brenner-Pass auf. Schließlich fingen französische Beamte einen Zug mit afrikanischen „Touristen“ kurz hinter der Grenze zu Italien ab und schickten ihn zurück. Nun brannte zwischen Paris und Rom die Luft, heftige Beschimpfungen schossen zwischen beiden Hauptstädten hin und her.

Beim Gipfeltreffen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dem italienischen Premier Silvio Berlusconi in Rom wurden die Wogen zwischen den Ländern geglättet, doch was die beiden vereinbarten, alarmierte seinerseits Brüssel und die Politiker in anderen Schengen-Ländern wie Deutschland: Rom und Paris wollen, dass in „Ausnahmesituationen“ Passkontrollen „vorübergehend“ wiedereingeführt werden dürften. Dies sieht der Schengen-Vertrag von 1985 ohnehin vor, bislang jedoch nur zur Abweisung gewaltverdächtiger Fußballfans oder zur akuten Terrorabwehr. Nach dem Willen von Rom und Paris soll die Sonderregelung künftig auch für „massive Flüchtlingsströme“ gelten.

Nachdem EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso den Vorstoß zunächst schroff ablehnte, signalisierte er tags darauf unerwartet Gesprächsbereitschaft. Außenminister Guido Westerwelle verteidigte, offenbar eng abgestimmt mit der Bundeskanzlerin, Schengen als „großen Wurf“, den es nicht preiszugeben gelte. Für „Verbesserungen“ sei Berlin aber offen. Die Grünen indes sperren sich vehement gegen jede Veränderungen: „Völlig absurd“, so die Grünen-Fraktionschefin im EU-Parlament, die Deutsche Rebecca Harms.

Die EU-Kommission unterzieht derzeit die französisch-italienischen Vorschläge einer ersten Prüfung, bis 10. Juni wird in Brüssel darüber eingehend beraten, so die Kommission. Beim kommenden EU-Gipfel Ende Juni soll dann eine Einigung erzielt werden.

Was bei dabei herauskommen dürfte, ist derzeit nur in Umrissen sichtbar: Zentral ist vor allem die Forderung Italiens nach mehr „Solidarität“ der nördlichen Mitgliedsländern mit den Mittelmeer-Anrainern bei der Verteilung illegaler Zuwanderer aus Afrika. Berlusconi sprach angesichts von 26000 Menschen von einem „Tsunami“, mit dem Italien alleingelassen würde.

Dies sorgte andernorts allerdings für Kopfschütteln, auch in Deutschland. Als Anfang der 90er Jahre bis zu 450000 Asylbewerber in einem einzigen Jahr in die Bundesrepublik strömten, war von „Solidarität“ mit den Deutschen auch in Italien nicht die Rede. Es war allein ein deutsches Problem, das von den deutschen Behörden auch als solches behandelt wurde. Statt die Asylbewerber per Vergabe von Schengen-Visa quasi in andere Länder weiterzureichen, wurde sogar die Bewegungsfreiheit der Bewerber im Lande selbst vergleichsweise streng reglementiert.

Dennoch will Italien nun auf Lastenverteilung drängen, womit ein Kernproblem der europäischen Strukturen auch hier wieder zutage treten wird. Denn während die Kontrollen  der Schengen-Außengrenzen weiterhin unter nationale Hoheit fallen, sollen die Folgen der nationalen Grenzpolitik offenbar europäisiert werden. Folgerichtig fordern die Anhänger einer wirksamen europäischen Grenzwache den Ausbau der EU-Grenzschutzagentur „Frontex“, was indes von den Grünen ebenso abgelehnt wird wie alle Änderungen am Schengen-Abkommen. Stattdessen fordert die Partei, mehr Auswanderungswillige aus Tunesien oder Libyen aufzunehmen.

Sollte eine für alle tragfähige Lösung Ende Juni verfehlt werden, könnte dies das Schengen-System tatsächlich in Gefahr bringen. Gelingt keine europäische Lösung, dürften die Staaten ihren Grenzschutz eigenständig wieder verstärken. Schengen würde so Schritt für Schritt zerbröseln. Ein Scheinkompromiss, derer es in der EU so viele gibt, würde von der Realität an den Grenzen und in den Übergangslagern schnell eingeholt werden und den Zerfall von Schengen nur umso wahrscheinlicher machen – ebenso wie die Scheinlösungen zur Eurokrise diese in letzter Konsequenz nur noch weiter verschärft haben.   Hans Heckel


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