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11.06.11 / Preußens verkannter Monarch / Vor 70 Jahren starb Kaiser Wilhelm II. – Das Urteil über ihn ist überwiegend vom Zeitgeist bestimmt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-11 vom 11. Juni 2011

Preußens verkannter Monarch
Vor 70 Jahren starb Kaiser Wilhelm II. – Das Urteil über ihn ist überwiegend vom Zeitgeist bestimmt

Leben und Wirken Wilhelms II., letzter König von Preußen und Deutscher Kaiser, sind bis heute Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und leidenschaftlicher Dis­kussionen. Von Geburt an von einem körperlichen Makel gezeichnet, musste sich der vor 70 Jahren, am 4. Juni 1941, verstorbene Mo­narch gegen vielfältige Widerstände behaupten. In seiner Jugend eitel, ungestüm und häufig vorlaut, entwickelte er sich als gereifter Mann im Laufe seiner Regentschaft zu einem besonnenen Staatsmann, der seine Entscheidungen wohl abwog und schwer an seiner Verantwortung trug.

Das Leben des letzten deutschen Kaisers begann mit einem Drama. Als er auf die Welt kam, stellten die Ärzte fest, dass der linke Arm gelähmt und die Schulter verletzt war. Der Thronfolger war behindert, für den Spross einer Herrscherdynastie geradezu eine Katastrophe. Damit war dem jungen Prinzen jede Chance auf ein halbwegs kindgerechtes Leben genommen. Unter körperlichen und seelischen Qualen lernte der behinderte Kronprinz zu reiten, zu schießen, zu fechten und sich sicher auf gesellschaftlichem Parkett zu bewegen. Wilhelm entwickelte nur wenig Selbstvertrauen und versuchte, diesen Mangel durch ein übertrieben forsches Auftreten zu kompensieren.

Im März 1888 kündigte sich mit dem Tod des greisen Großvaters ein neuer Lebensabschnitt an. Nur 99 Tage nach seiner Thronbesteigung erlag Wilhelms Vater als Kaiser Fried­rich III. einem Krebsleiden, und der 29-jährige Kronprinz bestieg als Wilhelm II. den Thron. Der noch immer unter seiner Behinderung leidende Wilhelm hatte diesen Augenblick herbeigesehnt, um sich und der Welt beweisen zu können, welche Qualitäten in ihm steckten und dass er des großen Erbes der Hohenzollern würdig war. Der junge Kaiser ließ erkennen, dass er nicht gewillt war, sich mit der Rolle eines „Schattenkaisers“ zufriedenzugeben. War sein Großvater noch bereitwillig hinter seinen Regierungschef zurückgetreten und hatte sein liberaler Vater als Kronprinz gegen Bismarck opponiert, wollte sich Wilhelm II. politisch emanzipieren und den „Eisernen Kanzler“ loswerden. Wilhelm, der einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit und viel Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen hatte, wollte sich als sozialer Kaiser profilieren und geriet dadurch in innenpolitischen Gegensatz zu Bismarck. Er machte mit sozialen Gesetzesinitiativen von sich reden und gewann die Sympathien des Reichstages. Der Konflikt um die Inhalte der Sozialpolitik eskalierte schließlich zur Machtfrage. Dem alten Reichskanzler glitten die Zügel aus den Händen und im März 1890 „ging der Lotse von Bord“. Seinen Nachfolgern indes fehlte Bismarcks staatsmännisches Format und das von ihm Errichtete sollte ein Vierteljahrhundert später im Sturm der Weltgeschichte verloren gehen.

Kennzeichnend für den Kaiser war seine ausgeprägte Passion für die Seefahrt. Besonders am Herzen lag ihm die Marine, die ihm als wichtiges Instrument der deutschen Außenpolitik galt. Die Notwendigkeit einer starken deutschen Flotte und die Berechtigung für deren Bau lassen sich aus den gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark angewachsenen deutschen Seeinteressen ableiten. Dem bekannten Grundsatz, dass dem Handel auch die Flagge folgen müsse, wurde in Deutschland mit großer Energie nachgekommen.

Im Jahre 1913 feierte Wilhelm II. sein 25-jähriges Regierungsjubiläum. Deutschland blickte auf ein Vierteljahrhundert des Friedens und der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte zurück. Unter allen Industrienationen nahm es in der Wohlfahrt die führende Stellung ein. Wenn es Wilhelm, der sich immer streng an die Verfassung hielt, auch manchmal an diplo­matischer Zurück­haltung fehlen ließ, konnte man ihm die Lauterkeit seiner Bemühungen um Frieden und Wohlstand seines Volkes nicht absprechen. Das Reich befand sich auf dem Gipfel nationaler Größe, was seine Zeitgenossen überwiegend der Person des Kaisers zuschrieben.

Die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo und die Annahme, dass durch dieses Ereignis der Bündnisfall eingetreten sei, führte in Europa zu allseitigen Kriegsvorbereitungen. Der Kaiser richtete Appelle an den britischen König, neutral zu bleiben und mäßigend auf Russland und Frankreich einzuwirken. Er beschwor den österreichischen Kaiser Franz Joseph einzulenken, obwohl er eigentlich für ein hartes Vorgehen gegen Serbien war. Doch die Vorgänge, die der Historiker Walther Hubatsch als die „Automatik der Mobilmachungen“ bezeichnet, ließen sich nicht mehr aufhalten. In Deutschland und den anderen kriegführenden Ländern wurde damit gerechnet, in wenigen schnell geführten existenziellen Schlachten die Entscheidung erzwingen und den Gegner niederringen zu können. Obwohl er von großer Sorge erfüllt war – „So viele Feinde“ bemerkte er immer wieder – glaubte der Kaiser, nachdem der Waffengang einmal begonnen hatte, an einen guten Kriegsausgang. Doch trotz der militärischen Anfangserfolge war er über das Geschehen tief erschüttert und trug schwer an der Verantwortung für seine Entschlüsse.

Ende 1915 war die deutsche Offensivkraft endgültig verloren gegangen. Die Folge war der Übergang vom dynamischen Bewegungskrieg in den statischen Stellungskrieg mit seinen menschen- und materialzehrenden Schlachten, die nicht mehr um Geländegewinn, sondern primär nur noch um die personelle Dezimierung des Gegners geführt wurden. Wilhelm erkannte, was die Stunde geschlagen hatte. Er hielt es jedoch „für selbstverständlich, in stiller zurückgezogener Mitarbeit an dem unermüdlichen Schaffen der beiden Feldherren [Hindenburg und Ludendorff] teilzunehmen“. Seinem Vetter Prinz Max von Baden gegenüber beklagte er sich sogar darüber, dass ihn niemand richtig über die Frontlage informiere, niemand seine Entscheidung verlange, und bekannte: „Wenn man sich einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr.“ Dass die im Frieden demonstrierte militärische Omnipräsenz des nominell Obersten Kriegsherrn nicht automatisch eine richtungsweisende militärische Führung bedeutete, war jetzt nicht mehr zu übersehen. Unter dem Eindruck des gewaltigen und blutigen Ringens war Wilhelm der „Schattenkaiser“ geworden, der er nie hatte sein wollen.

Angesichts der hohen Verluste unternahm der Kaiser Ende 1916 eine Friedensinitiative. Dies sei, so ließ er den Reichskanzler wissen, eine sittliche Tat. Jeder Herrscher, der ein Gewissen habe und sich Gott verantwortlich fühle, müsse die Welt jetzt von ihren Leiden befreien und Frieden machen. Die Ententemächte stellten jedoch für Deutschland unannehmbare Bedingungen, die Krieg bis zum Letzten bedeuteten. Für Wilhelm war damit klar, dass es den Kriegsgegnern nicht mehr allein um den militärischen Sieg, sondern um seine und die Beseitigung der Monarchie in Deutschland ging.

Auch im Seekrieg blieb Deutschland der strategische Sieg versagt. Wie zu Lande so gab es auch im Seekrieg einen Stillstand, in dem sich die Flotten drohend gegenüber standen, ohne zu einem mächtigen Schlag gegen den Feind auszuholen. Fortan wurde die Hauptlast des Seekrieges nicht von den Großkampfschiffen, sondern vor allem von den U-Booten getragen. Obwohl er dessen Wert als Seekriegsmittel erkannte, blieb dem Kaiser das U-Boot, dem naturgemäß etwas von Heimtücke anhaftete, suspekt. Seine Einsatzgrundsätze waren mit den Vorstellungen des Gardeoffiziers vom offenen Kampf Auge in Auge mit dem Feind nicht vereinbar. Angehörigen seines Stabes, die die Versenkung eines Passagierschiffes bejubelten, hielt Wilhelm entgegen: „Unser Schwert muss rein bleiben. Wir führen keinen Krieg gegen Frauen und Kinder. Wir wollen den Krieg anständig führen, ei­nerlei, was die anderen tun.“ Auch sah er mit großer Klarheit voraus, dass der U-Boot-Krieg das Verhältnis zu den neutralen Mächten erheblich belasten und schließlich den Kriegsverlauf beeinflussen würde: „Bevor England am Ende ist, sind wir es, denn der uneingeschränkte U-Boot-Krieg würde die Vereinigten Staaten in den Krieg bringen. Und das ist für uns gleichbedeutend mit dem Verlust des Krieges.“

Anfang September 1918 befanden sich die deutschen Heere an allen Fronten auf dem Rückzug, so dass eine alliierte Großoffensive gegen das deutsche Kernland befürchtet werden musste. Als Anfang Oktober 1918 einerseits Waffenstillstandsverhandlungen geführt wurden, andererseits im Hochseekommando Pläne für einen nicht mit der Reichsleitung abgestimmten Einsatz der Hochseeflotte gegen die britische Grand Fleet ausgefertigt wurden, meuterten die Matrosen gegen diesen letzten Flotteneinsatz „zur Wahrung der Ehre der Marine“. Dem Kaiser entglitt der Einfluss auf die weitere Entwicklung, die in die Revolution mündete. Auf Anraten Hindenburgs befand er sich im Großen Hauptquartier im belgischen Spa. Die zukunftsweisenden Entscheidungen aber fielen in Berlin. Dort sahen viele in ihm in dieser Situation das Friedenshindernis schlechthin, weshalb selbst in kaisertreuen Kreisen Abdankungsforderungen laut wurden. Friedrich Ebert indes erklärte, das Volk deute auf Ludendorff als den Schuldigen, aller Hass richte sich aber gegen Wilhelm II. Wer die Dinge in Russland beobachtet habe, könne aber nicht wünschen, dass eine solche Entwicklung in Deutschland eintrete. Sein Parteifreund Philipp Scheidemann brachte es auf den Punkt: „Es wurde ein Sündenbock gesucht und in erster Linie im Kaiser gefunden.“ In der Abgeschiedenheit des Hauptquartiers waren Wilhelms Beurteilung der Lage und ihre Entwick­lung weitgehend von den Meinungen seiner militärischen Umgebung geprägt. Von Hindenburg bestärkt, lehnte der Kaiser den ihm von Reichskanzler Prinz Max von Baden angetragenen Thronverzicht entschieden ab. Ein von Gottes Gnaden regierender Nachfolger Friedrichs des Großen danke nicht ab, gab er seinem Vetter mit großem Ernst zur Antwort.

Ohne dazu ermächtigt zu sein, verkündete der Reichskanzler dennoch unter dem Druck der Ereignisse die Abdankung des Kaisers. Daraufhin rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Hindenburg, der bislang entschieden gegen einen Thronverzicht gewesen war, erklärte dem Kaiser nun, die Armee sei am Ende, sie stünde nicht mehr hinter ihm und er müsse sofort die Krone niederlegen. Als Wilhelm auf den Fahneneid pochte, wurde ihm kühl entgegnet, der sei in dieser Lage nur noch eine Fiktion. Nun war der Kaiser bereit, seinem Volk das Opfer seiner Person zu bringen. Um einen Waffenstillstand zu erleichtern, den vollständigen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zu vermeiden und den Bestand des Reiches nicht zu gefährden, fügte sich der Kaiser in tiefer Resignation, entsagte dem preußischen und dem Kaiserthron und ging am 10. November 1918 nach Holland ins Exil.

Nachdem die Reichsregierung einen Teil seines Privatvermögens freigegeben hatte, erwarb Wilhelm 1922 das Haus Doorn, ein herrschaftliches Anwesen in der Nähe von Utrecht. Fortan lebte er vollkommen zurückgezogen und kultivierte das Bild des eleganten Pensionärs und etwas skurrilen Landedelmannes, der seine Tage mit Holzhacken und Bibelstunden verbrachte. Die Vorgänge in Deutschland beschäftigten ihn unablässig und er blieb bis ins hohe Alter ein wacher politischer Beobachter und scharfer Kritiker. Allerdings verzichtete er auf jede öffentliche Äußerung. Noch weniger kam es ihm in den Sinn, sich aktiv politisch zu betätigen, obwohl er immer wieder dazu aufgefordert wurde und es Zeiten gab, in denen diesbezügliche Bemühungen in Deutschland auf fruchtbaren Boden gefallen wären. Die Wirren der Weimarer Republik kommentierte der Kaiser mit spitzer Feder: „Der politische Idiotismus feiert im armen Vaterlande wahre Orgien. Vom Ausland her dies Chaos ansehen zu müssen, ist fürchterlich.“ Dem Nationalsozialismus stand er äußerst reserviert gegenüber, obwohl er mit Hitlers Regierungsantritt wie Millionen andere die Hoffnung auf bessere Zeiten für Deutschland verband. Wenngleich ihm die Aufbauleistung der neuen Regierung imponierte und er den Aufstieg und die neue Stärke des Reiches begrüßte, wahrte er gegenüber den braunen Machthabern stets Distanz. Veranstaltungen wie der „Tag von Potsdam“, bei dem seine alten Anhänger in ihren kaiserlichen Uniformen auftraten und sich von Hitler instrumentalisieren ließen, stießen ihn ab.

Bei Kriegsbeginn 1939 wurde Wilhelm im Haus Doorn interniert, nachdem er nichts hatte tun wollen, „was auch bei böswilligster Auslegung als Flucht ausgelegt“ werden konnte. Nach der deutschen Besetzung Hollands wurde Wilhelm „unter den Schutz des Deutschen Reiches“ gestellt und in Doorn zog eine militärische Wache auf. Das Angebot der Reichsregierung, nach Deutschland zurückzukehren, lehnte er höflich aber entschieden ab, woraufhin er unter Gestapo-Bewachung gestellt wurde. Mit wachem Interesse verfolgte Wilhelm das Kriegsgeschehen und verglich die beiden Weltkriege miteinander. Da er in beiden ein gemeinsames Grundmuster erkannte, sagte er, von den Siegesfanfaren unbeeindruckt, die militärische Niederlage Deutschlands voraus. Im Mai 1941 begann er, sich unwohl und müde zu fühlen. Die meisten seiner Zeitgenossen – Getreue wie Widersacher – hatte er bereits überlebt. Bis in seine letzten Lebensstunden beschäftigte ihn der Gedanke einer Versöhnung mit England. Am 4. Juni schloss er für immer die Augen. Für den Fall seines Todes hatte er ein schlichtes und stilles Begräbnis in Doorn verfügt, „keine Hakenkreuzfahnen, keine Kränze“. Hitler jedoch bestand darauf, den Kaiser mit einem Staatsbegräbnis in Potsdam beizusetzen, um sich so vor dem deutschen Volk als dessen Nachfolger zu legitimieren. Nachdem er sich gegenüber der kaiserlichen Familie damit nicht hatte durchsetzen können, ordnete er an, dass die Beisetzung amtlicherseits mit einer „kühlen Wahrung des äußeren Anstandes“ zu behandeln sei. Auf seinem letzten Gang von Verwandten, Getreuen und einer Ehrenkompanie der Wehrmacht begleitet, hat Wilhelm in einem kleinen, nach seinen Plänen entworfenen Mausoleum in Doorn seine letzte Ruhestätte gefunden.

Wilhelm II. war auf seine Weise eine tragische Figur, ein Opfer unglücklicher Zeitumstände, die seinen Schwächen eher förderlich als hinderlich waren. Er war nicht der Urheber, wohl aber der Repräsentant einer oftmals kurzsichtigen Politik und Symbol einer Zeit und eines Geistes, der in Machtbegehren und Selbstüberhebung zur „Ur­katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geführt hat. Von vielen Zeitgenossen, nachfolgenden Generationen und der Historiografie verkannt, steht einem ausgewogenen Urteil über seine Person und sein Wirken heute der Zeitgeist entgegen. Jan Heitmann


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