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18.06.11 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-11 vom 18. Juni 2011

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,           
liebe Familienfreunde,

es gab mal ein Wort, und es ist gar nicht so lange her, das hat uns sehr betroffen gemacht: Heimwehtouristen. Das war, als die bis dahin hermetisch verschlossenen Grenzen durchlässiger wurden und es den ersten aus ihren Heimatländern Vertriebenen gelang, wieder zurückzukehren, wo sie ihre Wurzeln hatten – wenn auch nur für wenige Tage und Wochen. Aber es waren keine Touristen, es waren Heimkehrer auf Zeit. Und sie sind es bis heute geblieben, auch wenn sie inzwischen schon oft in ihrer angestammten Heimat waren. Die ironisch klingende, wohl eher salopp gemeinte Bezeichnung ist zum Glück aus dem Wortschatz der Reisebranche verschwunden, von seriösen Unternehmen wurde sie auch nie benutzt. Heute bieten diese Programme an, die nicht nur den Wünschen der älteren Teilnehmer gerecht werden, die Vertrautes wiederfinden wollen, sondern auch Jüngeren die Möglichkeit geben, gut vorbereitet in das Land ihrer Vorväter zu reisen. Und da hat unsere Ostpreußische Familie auch schon mitgeholfen, wenn sich die Nachfahren an uns wandten, weil sie so gut wie nichts über das Heimatdorf ihres Vaters, den Hof ihrer Mutter wussten. In ihrer Kindheit hatten sie vergessen zu fragen, das Interesse ist erst später erwacht, aber jetzt sind die Eltern nicht mehr da, und auch die weitere Verwandtschaft hat sich gelichtet. Da werden wir nun gefordert, und das ist gut. Denn jede Frage, die wir beantworten, jeder Hinweis, den wir geben können – auch wenn diese nicht in unserer Kolumne erscheinen, weil wir sie direkt vermitteln –, hilft den Nachkommen bei ihrer Spurensuche. Unsere älteren Landsleute finden auf solch einer Heimatreise aber Schritt für Schritt den Weg zurück in ihre Kindheit und oft in einer Intensität, die sie nie für möglich gehalten hätten. So erging es jetzt dem Schauspieler Herbert Tennigkeit auf seiner Vortragsreise, die ihn in das Memelland führte. Drei Leseabende „Heiteres und Besinnliches aus Ostpreußen“ standen in Memel, Nidden und Heydekrug im Rahmen der Deutschen Kulturtage 2011 auf dem Programm. Für den in Hamburg lebenden Schauspieler erfüllte sich ein Traum mit der Lesung im Thomas-Mann-Haus in Nidden. Aber über die künstlerischen Aufgaben hinaus bot dem in Gröspelken, Kreis Tilsit, geborenen Ostpreußen diese Reise die Gelegenheit, seine Heimat wiederzusehen. Zwar hatte er schon auf früheren Reisen einige Fixpunkte seiner frühen Kindheit ausmachen können, wie seine alte Schule, in der er sogar auf seiner Bank sitzen konnte, denn auch heute wird dort unterrichtet. Aber damals hatte er nicht die Emotionen verspürt wie auf dieser Reise, auf der die Vergangenheit für ihn greifbar wurde. Im wahrsten Sinn des Wortes, denn in Pogegen, wohin die Eltern 1940 gezogen waren und von wo aus der kleine Herbert mit seiner Mutter auf die Flucht gehen musste, bekam er Zutritt zu dem ehemaligen Wohnhaus der Tennigkeits. Der jetzige Besitzer tut viel für das Haus, das in den vergangenen Jahren zu verkommen drohte. Es leuchtete ihm in strahlendem Weiß entgegen, und auch die Räume waren in gutem Zustand. Und da entdeckte er den großen, alten Kachelofen, an dem sich der kleine Herbert immer Hände und Nase gewärmt hatte, wenn er vom Spiel in der winterlichen Kälte heim kam. 70 Jahre schienen ausgelöscht.

Die innigste Verbundenheit mit seinem Heimatland verspürte er aber in der Kirche von Laukßargen, wo er diesmal nicht vor der verschlossenen Türe bleiben musste. Der jetzige Pfarrer gab seinem Begleiter den Schlüssel und Herbert Tennigkeit konnte die kleine Kirche betreten, in der er einmal getauft worden war. Und er sah das Taufbecken, das heute noch als solches dient, wie der gute Zustand und der – wenn auch künstliche – Blumenschmuck beweisen. Er stand vor dem Altar, vor dem seine Eltern bei ihrer Trauung gekniet hatten, und da war ein Dreivierteljahrhundert ausgelöscht. An der Wiege wurde es dem „Herbertchen“ mit Sicherheit nicht gesungen, dass er einmal als Schauspieler auf in- und ausländischen Bühnen und in den beliebtesten deutschen Fernsehserien agieren würde. Übrigens: „Herbertchen“ hatten ihn nicht nur die Eltern gerufen, den Namen hatte auch die große Darstellerin Maria Becker für ihren Partner gewählt, mit dem sie auf Schweizer Bühnen stand und mit der er noch heute in enger Verbindung steht. Vielleicht liegt es an diesem Lächeln in seinen hellen Augen, das sich noch intensiviert, wenn er Heiteres aus seiner Heimat vortragen kann, das seine Lesungen so erfolgreich macht. Das bestätigte mir auch Frau Karin Gogolka, die auf allen Lesungen dabei war, um im „Memeler Dampfboot“ darüber zu schreiben: „Es war großartig.“ Auch die litauische Presse berichtete ausgiebig über die Veranstaltungen. Im Programmheft war Herbert Tennigkeit als Interpret ostpreußischer Literatur angekündigt: „Seine Darbietungen sind heiter und voller ostpreußischer Eigenheiten. Herbert Tennigkeit ist einer der Wenigen, die diese Mundart heute noch beherrschen. In seinen Lesungen versteht er es, die Schönheit und Vielfalt des Landes zu beschreiben und die ostpreußische Mentalität mit seinem schauspielerischen Können lebendig darzustellen.“ Und so fächerte der Schauspieler auf seinen Lesungen die ganze Palette seines Könnens auf und hatte auch in Bezug auf die jeweiligen Veranstaltungsorte die richtige Auswahl getroffen. So fehlten in seinem Memel-Programm nicht die „Stadt am Tief“ von Agnes Miegel. Die Zuhörer in dem bis auf den letzten Platz besetzten Raum im Simon-Dach-Haus gingen gerne mit auf diese literarische Reise durch die Heimat, der Herbert Tennigkeit mit seinen eigenen Erinnerungen an sein „Ostpreußen, wie es war“ eine sehr persönliche Note gab. Wie auch in Heydekrug, wo Tennigkeit im Rahmen der Festveranstaltungen zum 500-jährigen Bestehen der Stadt auf der Terrasse des Vereinshauses des Deutschen Vereins sprach – da durfte natürlich auch eine Kindheitserinnerung von Hermann Sudermann im Programm nicht fehlen. Für den Schauspieler bildete aber die Lesung im Thomas-Mann-Museum in Nidden den künstlerischen Höhepunkt seiner Reise. „Die Atmosphäre war einzigartig, ich habe so etwas noch nie auf meinen vielen Lesungen erlebt“, sagt der Schauspieler. „Das Gefühl, dass Thomas Mann hier gelebt, hier an ,Joseph und seine Brüder‘ gearbeitet hat, ist unbeschreiblich.“ Das haben wohl auch die Zuhörer empfunden, welche die beiden Räume im Erdgeschoss füllten, das ehemalige Wohn- und das ehemalige Esszimmer der Familie, sein Arbeitszimmer hatte der Dichter im ersten Stock. Und so wie Thomas Mann in seinen autobiographischen Schriften „Über mich selbst“ die Einzigartigkeit der Nehrungslandschaft mit ihrer unvergleichlichen Farbenpracht beschreibt: „Der eigenartige Charakter dieses Landstriches hat nichts Einschmeichelndes, aber er kann einem ans Herz wachsen, und ich kann ein Lied davon singen!“, so spürte auch Herbert Tennigkeit diese Verbundenheit als Kind des Memellandes besonders intensiv. „Wenn ich den Kopf hob, konnte ich den Nehrungswald sehen, das Haff, den Himmel … nie werde ich diese Lesung vergessen!“, sagt der Schauspieler. Ich habe mich sehr gefreut, dass er auch eine meiner Erzählungen gelesen hat. Das nahm eine der Zuhörerinnen, Frau Hildegard Taeger aus Dortmund zum Anlass, mir zu schreiben und ihre Eindrücke von diesem literarischen Nachmittag im Thomas-Mann-Haus zu schildern. Sie gehörte zu den deutschen Gästen, die Nidden schon im Mai zu verzeichnen hatte und die sich diese Veranstaltung natürlich nicht entgehen ließen. Sie hatte aber noch andere Gründe, denn wir standen schon einmal vor einigen Jahren in Verbindung, als sie wegen ihrer Familiennamen – sie ist eine geborene Pakleppa, auch der Name Kurras spielte eine Rolle – an mich gewandt hatte. Frau Taeger schreibt: „Herr Tennigkeit erwähnte Ihren Namen und nach der Lesung ging ich zu ihm, wir sprachen miteinander, und ich fragte ihn nach einer, sagen wir ,Anekdote‘, deren Inhalt ich nur ungefähr wiedergeben kann. Es handelt sich um die ,Anten‘, also um Enten, die eine Rolle auf einem Gutshof spielen in einer wahren Katastrophenszenerie, die der Gutsherr von seinem Verwalter erfährt. Ich hörte diese kleine Geschichte in den 90er Jahren, als viele ältere Ostpreußen nach Nidden kamen, die im Hotel Skalva wohnten und von Willi Scheps betreut wurden. Wir waren einige Jahre dort, und manchmal fuhren wir über das Haff und einer der Gäste, Herr Engelke, der jedes Jahr mit seiner Frau nach Nidden kam, trug die ,Anten‘-Geschichte vor. Nun ist das Ehepaar schon seit einiger Zeit nicht mehr gekommen, und ich kann Herrn Englke also nicht befragen. Kennen Sie die kleine Geschichte? Wenn nicht, möchte ich hiermit die Leserinnen und Leser der PAZ befragen.“ Also, ich kenne sie nicht, kann auch aus den wenigen Angaben keine Vermutungen aufstellen, so dass ich die Frage von Frau Taeger weitergeben muss. Vielleicht erinnern sich auch frühere Hotelgäste an dieses Histörchen. Ich nehme an, dass es eine der heiteren Geschichten aus dem ostpreußischen Landleben ist, die von der „Georgine“, der Zeitung der ostpreußischen Landwirte, gesammelt und in Buchform herausgegeben wurden. Diese wahren Begebenheiten wurden auch von Skribenten humorvoller Verse zu solchen umgesetzt und vorgetragen und bereicherten somit sehr die geselligen Abende. (Zuschriften bitte an Frau Hildegard Taeger, Karl-Rübel-Straße 1 in 44141 Dortmund, Telefon 0231/553008, E-Mail: hataeger@yahoo.de)

Als ich diese Suchfrage las, musste ich lachen. Denn ich erinnerte mich bei der so schön ostpreußischen Formulierung „Anten“ an jene alte Truhe, die in unserer Königsberger Wohnung stand und die meine Mutter wie einen Augapfel hütete. War sie doch eine der letzten Relikte vom elterlichen, dicht an der russischen Grenze gelegenen Hof, der im Ersten Weltkrieg bis auf die Grundmauern abbrannte. Wenn man den Deckel der schweren blaugestrichenen Truhe öffnete, war auf der Innenseite eine handschriftliche Beschriftung zu erkennen. Mein Urgroßvater Johann Reinecker hatte sie eingetragen, wohl um für alle Zeiten festzuhalten, was da bei einem fürchterlichen Unwetter geschehen war: „Es gab einen solchen Sturm, dass des Nachbarn Kussats Magd angeflogen kam wie ein Ant!“ Das Datum war leider nicht mehr erkennbar. Wir haben uns als Kinder sehr über die „Ant“ amüsiert. Doch zurück zu Frau Taeger, bei der vor allem die Gedichte, die Herbert Tennigkeit vortrug, noch eine andere Erinnerung geweckt hatten, nämlich an ein kleines Gedicht, das auch diesen Titel trug. In ihrem Schreiben gibt sie eine Erklärung, warum sie so an diesen Versen hängt. „Das Gedicht ,Erinnerung‘ hat meine mir unbekannte Großmutter Bertha Lippke geschrieben. Sie starb, als mein Vater, Kurt Pakleppa, noch ein kleiner Junge war. Mich hat es mein ganzes Leben hindurch begleitet, und es wurde für mich zum Trost, als mir unsere schreckliche Flucht bewusst wurde.“ Sie hat es bis heute in einem kleinen Album bewahrt, das ihr Vater ein Jahr nach der Flucht angefertigt hat, um für seine damals vierjährige Tochter „die Heimat am Memelstrom“ zu bewahren. Die mit der Hand geschriebenen Verse sind noch heute gut zu lesen, auch das Bild von Hertha Lippke ist erkennbar. Frau Taeger übersandte mir eine Kopie mit der Bitte um Veröffentlichung, denn „vielleicht macht es diesem oder jenem Leser Freude.“ Die Albumseiten lassen sich leider nicht veröffentlichen, aber das kleine Gedicht kann ich bringen, weil es nur vier Zeilen hat. Und zumal es das beinhaltet, was ein Hauptanliegen unserer Ostpreußischen Familie ist: die Erinnerung an die Heimat zu bewahren.

„Es steigt aus dunklem Grunde ein heit’res Bild empor.

Es trägt verklung’ne Kunde in neuer Schönheit vor.

Es gibt in herbem Leiden der Seele neuen Schwung.

Es lächelt sanft beim Scheiden und heißt: Erinnerung!“

Eure Ruth Geede


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