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23.07.11 / Philippe Pétain – Frankreichs verkannter Patriot / Auch 60 Jahre nach seinem Tod ist der Marschall umstritten: War er Hitlers Vollstrecker oder hat er Schlimmeres verhindert?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-11 vom 23. Juli 2011

Philippe Pétain – Frankreichs verkannter Patriot
Auch 60 Jahre nach seinem Tod ist der Marschall umstritten: War er Hitlers Vollstrecker oder hat er Schlimmeres verhindert?

Eher beiläufig landet die Wasserflasche im Mülleimer, bekommt noch einen Fußtritt ab. Eingebettet in „geflügelte Worte“ („Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“ und „Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“) eine kleine Szene mit großer Symbolkraft. Denn es ist nicht irgendeine Wasserflasche, sondern eine von Vichy. Und Vichy ist nicht irgendein Wasser, sondern Synonym für die vielleicht größte Schmach in der Geschichte der Grande Nation: Frankreich unter fremder Herrschaft, besiegt und gedemütigt.

Natürlich hat Hollywood-Regisseur Michael Curtiz die Vichy-Flasche ganz bewusst in sein 1942 gedrehtes Meisterwerk „Casablanca“ eingebaut. Sie ist aus heutiger Sicht ein prophetischer Vorgriff auf das Jahr 1944, mit der Invasion der Alliierten in der Normandie und der Befreiung der Hauptstadt Paris von deutscher Besatzung.

Denn seit 1940 war das Heilbad in der Auvergne Frankreichs formelle Hauptstadt. Nach der Kapitulation am 22. Juni hatten deutsche Truppen den Norden des Landes besetzt. Am 10. Juli löste die Nationalversammlung in Paris die Dritte Republik auf und beauftragte den 84-jährigen Marschall Philippe Pétain, eine neue Verfassung für den nunmehrigen Französischen Staat (Ètat fran­çais) in Kraft zu setzten.

Die breite parlamentarische Mehrheit von fast 88 Prozent spiegelte die Stimmung in der französischen Öffentlichkeit wider. Für sie war Pétain immer noch der „Held von Verdun“, ihm konnten sie in diesen schweren Zeiten vertrauen. Und wenn er, der doch im Ersten Weltkrieg so tapfer gegen die Deutschen gekämpft hatte, nun, im Zweiten Weltkrieg, dazu riet, sich mit eben diesen Deutschen zu arrangieren, dann konnte das ja nicht verkehrt sein. Kollaboration hatte unter dem Schock der militärischen Niederlage noch keinen schlechten Beigeschmack. Selbst die Kommunisten unter Jacques Duclos unterstützten Pétain, wobei sie sich natürlich auch vom noch intakten Hitler-Stalin-Pakt leiten ließen.

Der greise Marschall wollte vor allem eines: seine Landsleute aus dem Krieg heraushalten, sein Vaterland nicht schon wieder zum Kriegsschauplatz werden lassen, zumindest einem Teil der Grande Nation die Schande der Okkupation ersparen und so wenigstens den Schein der Souveränität aufrecht erhalten.

Zugleich sah er die Chance, seine konservativen Wertvorstellungen umzusetzen. Prompt ersetzte er das revolutionäre „Liberté, Égalité, Fraternité“ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) durch „Travail, Famille, Patrie“ (Arbeit, Familie, Vaterland).

Zunächst konnte er den deutschen Siegern auch beachtliche Zugeständnisse abringen. Staatsrechtlich sollte die Vichy-Regierung für ganz Frankreich sprechen, behielt die Befehlsgewalt über die Marine, blieb Herr der Kolonien. Vor allem aber wurde ihm in Aussicht gestellt, dass rund zwei Millionen französische Soldaten baldigst aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassen würden.

Doch bald schon zeigte sich, dass diese Versprechungen entweder gar nicht eingehalten wurden oder mit schwerwiegenden Gegenforderungen verbunden waren. Von einem freien, neutralen und souveränen Frankreich konnte keine Rede sein, 60 Prozent des Landes waren von der Wehrmacht besetzt. Elsass und Lothringen waren auch formalrechtlich unter deutsche Verwaltung gestellt, der Rest des Nordens und Westens de facto ebenfalls. Frankreichs Industrie blieb zwar – anders als die deutsche nach dem Ersten Weltkrieg – weitgehend von Demontage und Ausplünderung verschont, dies aber nur, weil sie so für Hitlers Kriegsziele nützlicher war. Und viele Kriegsgefangene wurden nicht in die Heimat entlassen, sondern in Fremdarbeiter „umgewandelt“.

Die Fiktion eines wenigstens teilweise souveränen, unbesetzten Landes brach im November 1942 vollends zusammen. Als Reaktion auf die alliierte Invasion in Nordafrika besetzten deutsche und italienische Truppen den südlichen Rest Frankreichs; Pétains Vichy wurde endgültig zum Marionettentheater.

Nun konnte der Marschall sich auch einer direkten französischen Beteiligung an Hitlers Judenvernichtungsprogramm nicht mehr entziehen. Der unbesetzte Süden konnte nicht mehr als Zufluchtsort dienen, von wo aus Juden und andere Verfolgte über Portugal oder Marokko ins sichere Amerika gelangen konnten. Dass nunmehr so mancher Franzose auch die Gelegenheit nutzte, latent vorhandenen Antisemitismus endlich ungestraft auszutoben, wurde jahrzehntelang tabuisiert. Noch heute tun sich unsere Nachbarn schwer, sich diesem düsteren Kapitel der eigenen Geschichte zu stellen.

Mit der Entzauberung der von durchaus edlen, patriotischen Motiven geleiteten Vichy-Regierung einher ging die Stärkung des Widerstands gegen die deutschen Besatzer. Die Résistance, in London von General Charles de Gaulle gesteuert, anfangs aber noch militärisch total unbedeutend, wurde für die deutschen Truppen zur ernsten Bedrohung.

Am 26. August 1944 zog de Gaulle in die befreite Hauptstadt Paris ein. Sechs Tage zuvor hatte Hitler die Vichy-Regierung ins württembergische Sigmaringen deportieren lassen; bis zum 21. April war das dortige Hohenzollernschloss offizieller Regierungssitz des Französischen Staates.

Nach der deutschen Kapitulation kehrte der inzwischen 89-jährige Pétain nach Frankreich zurück, wurde verhaftet und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Sein politischer Widersacher de Gaulle wandelte das Urteil in lebenslange Haft um. In der Verbannung auf der kleinen Atlantikküste Île d’Yeu starb er am 23. Juli 1951.

Auch nach 60 Jahren ist die Grande Nation gespalten, wie sie den Marschall bewerten soll. War der „Held von Verdun“ gegenüber Hitlers Wehrmacht zum Feigling geworden? Oder war es ein Zeichen von Altersweisheit, nicht mehr, wie vor Verdun, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen?

 Es scheint, als sei Philippe Pétain eine jener wahrhaft tragischen Gestalten, die, anders als Goethes Mephisto, stets das Gute wollen und dennoch manchmal Böses schaffen. Seine patriotische Grundhaltung jedenfalls sollte nicht angezweifelt werden. Auch wenn das mit seinem Namen verbundene Vichy-Regime filmreif im Mülleimer der Geschichte landete.  Hans-Jürgen Mahlitz


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