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23.07.11 / Der Wochenrückblick mit Hans Heckel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-11 vom 23. Juli 2011

Der Wochenrückblick mit Hans Heckel
In Raum und Zeit / Wie der ESM durchs Wurmloch schießt, wie Karlsruhe den Kopiloten macht, und wie man einen Rechtsverstoß richtig anstellt

Vor 106 Jahren sprengte ein deutscher Physiker fundamentale Gewissheiten in die Luft: Albert Einstein fand heraus, dass die Zeit ebenso gestaucht und gedehnt werden kann wie der Raum. Seitdem wissen wir: Wenn ein Raumschiff mit 99-prozentiger Lichtgeschwindigkeit davon rauscht und (gemäß Erdenzeit) nach zweihundert Jahren zurückkehrt, dann ist die Besatzung an Bord nur zwei Jahre älter geworden. Oder so ähnlich. Jedenfalls ist die Zeit für die Astronauten deutlich langsamer verlaufen als für uns hier auf dem blauen Ball. Ist das nicht phantastisch? Noch phantastischer ist nur die Theorie von den Wurmlöchern, durch die hindurch ein echter Zeitsprung möglich sein soll.

Sicher, phantastisch, phantastisch, das Problem ist nur: Von dieser Sensation zu wissen, heißt noch lange nicht, sich die Sache auch praktisch vorstellen zu können. In unseren Sinnen sind wir immer noch besser angezogene Höhlenbewohner. Eine Stunde ist für uns eine Stunde, fertig! Und nach Wurmlöchern suchen wir in Äpfeln, nicht in den unendlichen Weiten des Weltraums. Dass man die Zeit quetschen und strecken kann wie ein Gummiband, das können wir als wissenschaftlich gesichert abhaken, aber ob wir das auch jemals wirklich begreifen? Fraglich.

Wir wollen das aber begreifen. Und wie kriegen wir das hin? Am besten, man zieht Alltagsbeispiele heran, um Einsteins Theorie von der Relativität der Zeit anschaulich zu machen. Die Politik hat uns dafür freundlicherweise ein paar sehr griffige Exemplare geliefert.

Als es darum ging, ob man ein paar Hundert Millionen Euro herausgeben sollte, damit die Hartz-IV-Empfänger fünf Euro mehr pro Nase kriegen, da dehnte sich die Zeit derart in die Länge, dass der Mond die Erde bis zum Beschluss fünfmal umkreisen konnte. Fünf Monate lang stritten sich Regierung und Opposition um die paar Kröten.

Dann aber fielen sie in ein Wurmloch: Mit der Bereitstellung von Hunderten von Milliarden waren sie im Reichstag schon nach vier Wochen fertig. Wenn man die Geldsummen als den zu durchquerenden Raum nimmt, dann sind die Berliner zum Hartz-Beschluss auf allen Vieren gekrochen, während die Euro-Rettungsmilliarden in Lichtgeschwindigkeit erreicht wurden.

Bei dem Sauseschritt darf es nicht überraschen, wenn immer mehr Steuerzahlern in der Passagierkabine speiübel wird. Zumal sie wissen, dass Wurmlöcher in der Nähe eines weit weniger freundlichen Phänomens vermutet werden, den sogenannten „schwarzen Löchern“. Das sind diese gruseligen Planetenfresser, die alles ansaugen und zermalmen, sogar das Licht, weshalb sie so schwarz sind.

Beim Blick aus dem Fenster hat man ja wirklich den Eindruck, dass es immer dunkler wird. Selbst die Beweggründe der Besatzung auf der Brücke sind kaum noch zu erkennen in dieser Düsternis. Wohin wollen die eigentlich mit uns? Der Verdacht schleicht sich ein, dass wir Teilnehmer eines Himmelfahrtskommandos sind, gesteuert von Leuten, die zwar keine Ahnung haben, worauf sie zusteuern, trotzdem aber nicht daran denken, den Fuß vom Pedal zu nehmen. Und warum nicht? Weil sie irgendwann verkündet haben, dass dies der richtige Kurs ist und jetzt die Peinlichkeit scheuen, zugeben zu müssen, dass sie danebenlagen. Klingt unfassbar, aber es wäre nicht die erste Havarie der Geschichte, die der Eitelkeit des Kapitäns geschuldet ist.

Auf einem gut organisierten Staatsschiff gibt es da aber immer noch weise Aufseher, welche den Leuten auf der Brücke notfalls in den Arm fallen. Es sind die obersten Richter, welche die Maschinen stoppen können, wenn der Kurs gegen die Verfassung verstößt. Damit sie ihres Aufseheramtes walten können, dürfen sie allerdings nicht allzu intim sein mit denen am Ruder. Genau diesen trüben Verdacht aber hegt Markus Kerber (siehe Meldung). Der Berliner Wirtschaftsjurist vertritt die 55 Mitglieder starke Klägergruppe „Europolis“, zu der sich Personen und diverse mittelständische Unternehmen zusammengeschlossen haben. Sie wollen verhindern, dass mit dem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) die Budgethoheit des Bundestages verschenkt wird.

Eigentlich eine klare Sache: Das Recht, über die Verwendung der Steuergelder zu verfügen, haben allein die vom Volk gewählten Parlamente. So ist es in allen entwickelten Demokratien. Einen ESM, der sich (wie im Vertrag vorgesehen) einfach darüber hinwegsetzen und die Milliarden der Deutschen kurzerhand „par ordre de mufti“ einziehen kann, den lässt das Grundgesetz nicht zu. Basta.

Was aber macht Karlsruhe? Es zieht die Sache solange hin, bis sich der Bundestag per Beschluss selbst entmachtet hat. Das soll im September geschehen. Der Trick: Die Verfassungsrichter sind nicht nur dem Text der Verfassung verpflichtet, sondern auch dem „Gemeinwohl“, was ja ein recht dehnbarer Begriff ist.

Hat der Bundestag den ESM erst einmal durchgewinkt, könnten die Richter argumentieren, dass der Stabilitätsmechanismus zwar sehr bedenklich und „eigentlich“ mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. Doch dann käme der Hammer: Nun aber, da alles entschieden sei, widerspreche es dem Gebot der Gemeinwohl-Verpflichtung, den historischen Beschluss höchstrichterlich wieder über den Haufen zu schießen, weil damit „dem Gedanken der europäischen Einheit und damit dem Gemeinwohl des deutschen Volkes unabsehbarer Schaden zugefügt würde. Im Namen des Volkes: Klage abgewiesen“. Die Karlsruher Richter haben gerade bekannt gegeben, wann in etwa mit ihrer Entscheidung zu rechnen sei: im September.

Was für ein Zufall! Herr Kerber wittert verständlicherweise Unrat und schäumt vor Wut. Der gute Mann scheint sich mit einer neueren Entwicklung der deutschen Rechtsgeschichte einfach nicht abfinden zu wollen: Früher wurden Rechtsbrüche dann besonders heftig geahndet, wenn sie besonders schwer waren. Heute ist es genau umgekehrt: Je feister der Verstoß, desto gnädiger der Rechtsstaat.

Beispiele gefällig? Wenn Sie tausend Euro Steuern hinterzogen haben, dann machen Sie sich mal auf was gefasst. Sollte es dagegen ruchbar werden, dass es sich um hundert Millionen handelt, dann können Sie damit rechnen, dass Ihnen der Bundesfinanzminister eine gütliche Einigung anbietet. Das gleiche Muster gilt beim Versammlungsrecht: Machen Sie eine unangemeldete Demo mit 50 gut erzogenen Freunden, bei der Sie ein kleines Plakat hochhalten, dessen Inhalt fünf Zentimeter weit in den vermeintlichen „Rechtspopulismus“ hineinlappt, können Sie gar nicht so schnell gucken, wie die Polizei ihre Zusammenrottung auflöst. Marschieren Sie hingegen mit 500 gewalttätig aussehenden „Autonomen“ unangemeldet gegen das „Schweinesystem“, wird die Polizei sie freundlich durch die Stadt geleiten und „deeskalierend“ um Ihr Verständnis buhlen. So schlägt denn auch die Emsigkeit, mit welcher die Staatsmacht Falschparker aufspürt und Geschwindigkeitsüberschreitungen ahndet, in rührende Hilflosigkeit um, wenn es darum geht, Autozündler festzunageln.

So gehen auch die obersten Richter jedem klitzekleinen Verfassungsverstoß mit vorbildlicher Genauigkeit nach. Will jedoch jemand die Gewaltenteilung im schwarzen Loch der Euro-Mechanismen versenken, dann erwecken die Karlsruher jetzt schon den Eindruck, als machten sie es sich auf dem Sessel des Kopiloten bequem, den sie schon angesichts der Portugalrettung warmgesessen hatten: Auch damals zögerten sie mit ihrer Entscheidung so lange, bis alles beschlossene Sache war.  Unterdessen haben sogar die professionellen Falschmünzer begriffen, wohin die Reise mit unserem Geld geht: Die Menge an gefälschten Euro-Noten ist im ersten Halbjahr 2011 gegenüber dem zweiten Semester 2010 um beeindruckende 28 Prozent zurückgegangen, berichtet die Polizei.


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