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06.08.11 / Die Zeit der großen Gesten ist vorbei / 20 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag – Fachtagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Königswinter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-11 vom 06. August 2011

Die Zeit der großen Gesten ist vorbei
20 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag – Fachtagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Königswinter

Um ein Fazit vorwegzunehmen: Die mit rund 100 Teilnehmern trotz Ferienzeit sehr gut besuchte Veranstaltung am Wochenende des 22. und 23. Juli in Königswinter am Rhein konnte dank eines hochkarätigen Referentenkreises tatsächlich Kontrapunkte setzen zur häufig inhaltsleeren Darstellung der Beziehungen der beiden größten mitteleuropäischen Länder.

Bevor man sich der Bilanzierung von zwei Jahrzehnten Nachbarschaftsvertrag widmete und die auf der Einladung gestellte Frage „Haben sich die Erwartungen erfüllt?“ zu beantworten versuchte, bekamen die Teilnehmer eine Einführung in die juristischen Rahmenbedingungen. Gilbert Gornig, Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Marburg, lieferte eine kenntnisreiche „Rechtswissenschaftliche Betrachtung der aus dem Nachbarschaftsvertrag erwachsenen Regelungen zum Minderheitenrecht und zur Pflege des kulturellen Erbes“.

Gornig verwies auf die Beschwörung völkerrechtlicher Standards in Paragraf 2 des Vertrages vom 17. Juni 1991 und die Ausführungen zum Minderheitenschutz in Paragraf 20 beziehungsweise zum Kulturgüterschutz in Paragraf 28. In aller Deutlichkeit erteilte er der von Warschau geforderten Gleichbehandlung der polnischstämmigen deutschen Staatsbürger als „Minderheit“ mit den heimatverbliebenen Deutschen jenseits von Oder und Neiße eine Absage. Die große Mehrheit der „preußischen Polen“, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ins Ruhrgebiet zugewandert ist, hätte längst keine Verbindung zur polnischen Identität mehr und die völlige Vereinnahmung der oberschlesischen Aussiedler sei ohnehin abwegig.

Nur jene im Bundesgebiet sesshaft gewordenen Angehörigen der nach 1981 in Folge der Verhängung des Kriegsrechts gen Westen geflüchteten Polen sowie die nach 1996 zugezogenen Arbeitsmigranten hätten einen zweifelsfrei polnischen Hintergrund. So leben Gornig zufolge gegenwärtig 419000 Polen auf deutschem Staatsgebiet, die, seinen aufschlussreichen Erläuterungen zum Minderheitenbegriff folgend, jedoch keinem einzigen objektiven oder subjektiven juristischen Kriterium für die Anerkennung als ethnokulturelle Minderheit genügten.

Darüber hinaus skizzierte Gornig die noch immer ungeklärte Frage der Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter – sprich: den Streit über „Beutekunst“ wie die in Krakau lagernden Bestände der Preußischen Staatsbibiothek (einschließlich des Originals des „Liedes der Deutschen“ von Fallersleben; die PAZ berichtete) – und widerlegte unter Hinweis auf die Rechtslage polnische Sachentschädigungsforderungen für gezielte Zerstörungen seitens des Dritten Reiches. Nicht zuletzt habe der von den USA und Großbritannien nach 1945 ausdrücklich abgelehnte und von Frankreich nur kurzzeitig vertretene Kompensationsgedanke auch keinen Eingang in den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag gefunden.

Der an der Universität Bromberg (Bydgoszcz) lehrende polnische Historiker Prof. Albert Kotowski zitierte in seinem „Rück­blick auf die deutsch-polnische Nachbarschaft“ den Ministerpräsidenten Donald Tusk, indem er feststellte, dass die „Zeit der großen Gesten“ vorbei sei und nunmehr nationale Interessenpolitik im Vordergrund stehe. Diese werde indes von beiden Seiten nicht überzeugend geleistet und entspreche schon gar nicht dem, was sich Berlin nach der Ablösung der Kaczynski-Regierung erhofft hatte, zumal die vormalige Kritik an den bundesstaatlichen Tendenzen der Europäischen Union nach Ansicht Kotowskis auch unter der Regierung Tusk weitergeführt werden dürfte. In sensiblen Fragen wie der Ostseepipeline oder dem Zentrum gegen Vertreibungen sei „immer noch eine unglaubliche Empfindlichkeit der polnischen Öffentlichkeit“ zu beobachten, was das weitgehende Verstummen entsprechender grenzübergreifender Diskussionen erkläre. So mögen die Beziehungen eingedenk der „staatsmännisch-beruhigenden“ Jubiläumsrede von Präsident Tusk in Berlin am 17. Juni zwar entspannt erscheinen, doch die „Probleme sind geblieben“.

Ähnlich fiel der Tenor des Vortrags von Professor Karol Sauerland aus, einem in der DDR aufgewachsenen Sohn deutsch-jüdischer Emigranten, seines Zeichens Ex-Chefredakteur der polnischen Untergrundzeitschrift „Europa“ und aktuell Leiter der Abteilung für Literaturwissenschaft an der Warschauer Universität. Sauerland spickte seine Reflexionen über „Die derzeitigen deutsch-polnischen Beziehungen im europäischen Kontext“ mit Insiderwissen und anregenden persönlichen Bewertungen, wobei seine äußerst russlandkritische Grundhaltung in der Behauptung gipfelte, dass „das, was Deutschland und Polen teilt“, der „Blick auf den Osten“ sei.

Bedauerlicherweise übernehme die von ihm auch deshalb abgelehnte Tusk-Regierung tendenziell die – im peinlichen Hickhack um die Verleihung des Quadriga-Preises an Wladimir Putin deutlich gewordene – „deutsche Vogel-Strauß-Politik“ hinsichtlich der undemokratischen Entwicklungen in der Russischen Föderation. Überhaupt sei die derzeitige Führung in Warschau eine „liberale Regierung im schlechtesten Sinne“, die alles privatisiere und kommerzialisiere.

Die gemeinsame Deutsch-Polnische Erklärung vom 12. Juni dieses Jahres bildete anschließend den Ausgangspunkt für eine kontroverse Debatte über die Zukunft der deutschen Volksgruppe in der Republik Polen. Während die Ministerialrätin Maria Therese Müller in Vertretung von Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedler- und Minderheitenfragen, in ihrem Grußwort die erfreulichen Aspekte der in Rundtischgesprächen ausgehandelten Erklärung hervorhob – namentlich die festgeschriebene stärkere Förderung von Objekten der deutschen Minderheit (insbesondere des Hauses der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz), die in Aussicht gestellten Hilfen beim Ausbau des muttersprachlichen Unterrichts sowie die Aufarbeitung „undemokratischer Praktiken“ des kommunistischen Polens gegen die deutschen Bürger – markierte der Schlussvortrag des ersten Tagungsabends die Gegenposition. Tobias Körfer, der frisch gewählte Vorsitzende der AGMO e.V., sprach gegen die allgemeine „Jubelberichterstattung“ und den unverbindlichen Charakter der „Absichtserklärungen“ an.

Der mütterlicherseits aus einer oberschlesischen Familie stammende Körfer rückte auf eloquente Weise die Problematik des (Wieder-) Erwerbs des Deutschen als Muttersprache in den Mittelpunkt seiner Analysen zur „Sprach- und Identitätsproblematik der deutschen Volksgruppe in der Republik Polen“ und erntete dafür viel Beifall. Es gab aber auch Kritik, gerade von Kennern der heutigen Verhältnisse, wegen der vorgetragenen „Maximalforderungen“ und eines bisweilen „aggressiven Tons“.

Erscheinen die deutsch-polnischen Beziehungen nun als halb volles oder halb leeres Glas? Sind die mit Blick auf die deutsche Volksgruppe erreichten Fortschritte seit 1989 als mutmachender Erfrischungstrunk zu werten oder als Schierlingsbecher, der – sofern nicht bald radikale Veränderungen einsetzen – den schleichenden kulturellen Tod zur Folge hat? Die Antwort ist schwierig und liegt irgendwo zwischen beiden Polen, zumal die Fakten widersprüchlich sind.

So lässt sich auf polnische Meinungsumfragen hinweisen, wonach im vergangenen Jahr nur noch 14 Prozent der Einwohner eine „Bedrohung des eigenen Landes durch Deutschland“ sahen, während sich 2006 rund 23 Prozent und 1990 immerhin 88 Prozent vor dem westlichen Nachbarn ängstigten. Und es gibt erstaunliche Veränderungen im Kleinen wie das jüngste offizielle Lob des Vizemarschalls der Woi­wodschaft Ermland-Masuren für die Zusammenarbeit mit der Landsmannschaft Ostpreußen auf deren Sommerfest in Hohenstein (Olsztynek) Ende Juni 2010. Das Interesse jüngerer polnischer Akademiker an den deutschen Hinterlassenschaften in den historischen Ostgebieten ist groß, das Lehrangebot an den Universitäten beachtlich und die Reaktion auf Gespräche mit ostdeutschen Vertreibungszeitzeugen zum Beispiel in Schulen oft sehr positiv.

Andererseits hat Tobias Körfer Recht, wenn er hervorhebt, dass die Minderheit „institutionell zwar umfassend abgesichert“ sei, was aber nicht dazu führe, „die Sprach- und Identitätsproblematik zu klären“. Auf der Basis vertraglicher Zusicherungen des polnischen Staates müsse die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenwirken mit den örtlichen Vertretern der deutschen Volksgruppe deshalb schnell ein flächendeckendes Angebot an muttersprachlichen deutschen Schulen und Kindergärten in Trägerschaft der Minderheit durchsetzen.

Doch dies werde, so der AGMO-Vorsitzende, von beiden Regierungen nicht angestrebt, deren Erfolge sich nur auf „schmerzfreie Zonen“ erstreck­ten. Der Ausbau bilingualer Bildungsstätten sowie die forcierte Einrichtung der sogenannten „Samstagsschulen“, von denen es mittlerweile über 50 gebe, seien völlig „unzureichende Konzepte“.

Diese Einschätzung wurde von mehreren Diskussionsteilnehmern als „wirklichkeitsfern“ zurückgewiesen, da es bei einer kurzfristigen Bereitstellung flächendeckender muttersprachlicher Kindergärten und Schulen – selbst wenn die nötigen Gebäude und die erforderlichen Gelder vorhanden wären – an geeigneten Lehrern und vor allem den nötigen Schülerzahlen mangeln würde. Dass eine Strategie, die die Folgen der jahrzehntelangen Zwangspolonisierung und die ohnehin schwierige Identitätslage im gemischtnationalen Oberschlesien außer Acht lässt, zum Scheitern verurteilt wäre, machte nicht zuletzt der Eingangsvortrag des zweiten Tagungstages deutlich.

Bernard Gaida, der Vorsitzende des Verbandes der deutschen Gesellschaften in Polen (VdG), verteidigte in seinen Ausführungen „Zur aktuellen Situation der deutschen Volksgruppe in Polen“ auf ebenso kenntnisreiche wie sympathische Art die Notwendigkeit zweisprachiger Bildungsangebote für die nach eigener Schätzung über 300000 Angehörigen seiner Volksgruppe, „denn Eltern müssen ihre Kinder auch zum Deutschunterricht schicken“. Trotz des bedauerlichen Fehlens eigener Schulen und Kindergärten seien Signale einer Öffnung der Berliner Politik für die Belange der Minderheit zu beobachten, was im Wortlaut der Erklärung vom 12. Juni immerhin angedeutet würde. Auch habe die polnische Seite mit der Ratifizierung der Europäischen Charta für Minderheitenrechte die deutsche Sprache im Land ausdrücklich als schützenswertes Kulturgut anerkannt und sich zu Fördermaßnahmen verpflichtet. Leider sei die Grundphilosophie der Charta in Polen jedoch „noch immer nicht richtig verstanden“ und der deutschen wie auch den anderen Minderheiten fehle der Zugang zu den überregionalen Medien, um den Umdenkungsprozess beschleunigen zu können.

Gaida betonte die Notwendigkeit eines ergänzenden heimatbezogenen Geschichts- und Landeskundeunterrichts in den Minderheitensiedlungsgebieten sowie die Finanzierung eines eigenen deutschsprachigen Radiosenders und kritisierte den anhaltenden Vandalismus gegen zweisprachige Ortsschilder in Oberschlesien, ohne dass die Behörden einschritten. Er lobte die Leistungen des Minderheitenbeauftragten Christoph Bergner und die Rede von Staatspräsident Bronisław Komorowski beim jüngsten Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages der Annabergkämpfe. Komorowski hatte auch jenen Schlesiern seine Anerkennung ausgesprochen, die seinerzeit gegen die polnischen Aufständischen und für eine Zukunft im Rahmen des Deutschen Reiches stritten.

Außerdem würdigte der Sprecher der deutschen Volksgruppe in der Republik Polen die jüngsten „moralischen Unterstützungen“ durch Bundeskanzlerin Merkel und den niedersächsischen Minsterpräsidenten McAllister (CDU) sowie durch dessen Amtskollegen Kurt Beck (SPD), der im September das mit Rheinland-Pfalz in einer Regionalpartnerschaft verbundene Oppelner Schlesien besuchen möchte.

Abschließend bekam das Auditorium die Ausführungen des selbst nicht anwesenden Prof. Witold Stankowski (Universität Krakau) über „Fortschritte und Hindernisse bei der Erforschung der gemeinsamen Geschichte von Deutschen und Polen“ durch dessen Doktorandin Edyta Zyla Pilch vorgetragen, ergänzt um spannende eigene Erfahrungen bei der Erforschung der Regionalhistorie des Teschener Schlesiens sowie einen Kurzvortrag von Aleksandra Kmak-Pamirska über „Die Wahrnehmung des Danziger Bischofs Carl Maria Splett [Amtszeit von 1939-45] durch die deutsche und polnische Gesellschaft“.

Eine gesonderte ausführliche Wiedergabe verdiente der ausgezeichnete, völlig frei gehaltene Vortrag Dr. Peter Schabes von der erst 2007 gegründeten Deutsch-Polnischen Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz (Görlitz) über die „Pflege von ehemaligen deutschen Kulturgütern und Denkmälern in Polen als Bestandteile des gemeinsamen europäischen Kulturerbes“.

In aller Kürze seien hier nur die von Schabe referierten abweichenden Ansichten zur Denkmalpflege genannt, die in Deutschland auf die „Bewahrung historischer Schichten“ unter bewusster Inkaufnahme von „Wunden“ hinausliefen, während man in Polen geschichtliche Gesamterscheinungsbilder wiederherzustellen trachte. Als Fallbeispiel eines aktuellen Großvorhabens ging Schabe auf die Renovierungsbemühungen am ostpreußischen Schloss Steinort (Stynort) ein. Die Görlitzer Denkmalschützer und ihre Warschauer Partnerstiftung bissen sich an der kostspieligen Instandsetzung des einstigen Domizils der Familie von Lehndorff und den schwierigen Besitzverhältnissen wiederholt „die Zähne aus“. Sie konnten aber auch erste Erfolge erzielen und hoffen nun auf befriedigende Kompromisse bei der Ausgestaltung als regionales Geschichtsmuseum.

Überraschend waren die vom Redner zitierten Kritiken polnischer Denkmalpfleger am üblicherweise hochgelobten Wiederaufbau der Danziger Altstadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sei zu groben Fälschungen gekommen, denn man habe Danzig „zwar wiederaufgebaut, aber die deutschen Zitate weggelassen“.

Obwohl die Tagungsteilnehmer in Königswinter die Frage nach der Bewertung von zwei Jahrzehnten deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags weitaus kritischer als die bundesdeutsche Politik und Medienöffentlichkeit beantworteten, wiesen erhebliche Meinungsunterschiede im Detail auf die Notwendigkeit einer offenen Diskussion hin. An dieser sollten nicht zuletzt die mit der Thematik unmittelbar konfrontierten ostdeutschen Vertriebenen und deren Organisationen teilhaben. Vielleicht lässt sich dann ja in fünf Jahren eine erfreulichere Bilanz ziehen, wenn die von Tagungsleiter Hans-Günther Parplies halb ernst-, halb scherzhaft in den Raum gestellte Veranstaltung zum 25-jährigen Jubiläum des Nachbarschaftsvertrages Wirklichkeit werden sollte. Martin Schmidt


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