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06.08.11 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-11 vom 06. August 2011

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,
liebe Familienfreunde,

es gibt in unserer Familienpost immer mehr Briefe, die befassen sich nicht mit einer kleinen Anfrage, mit einem in Kurzform gebrachten Suchwunsch oder einer knappen Mitteilung, sondern füllen ganze Seiten. Wenn sie von älteren Leserinnen und Lesern geschrieben werden, die über die gravierenden Ereignisse in ihrem langen Leben berichten, ist oft der Wunsch federführend, endlich einmal das alles niederschreiben zu können, wofür man im engeren Umfeld bisher kein Verständnis fand. Aber nun habe ich ein Schreiben bekommen, das vier eng beschriebene Seiten umfasst, und es kommt aus der Enkelgeneration, von einer Nachfahrin ostpreußischer Vertriebener. Es hat mich sehr berührt, nicht nur, weil auch unsere Ostpreußische Familie darin eine Rolle spielt, sondern auch weil die Schreiberin ihre enge Verbundenheit mit der Heimat ihrer Vorfahren und ihrer in dieser fest verwurzelten Familie so engagiert bezeugt, dass man kaum glauben kann, dass sie eine Nachgeborene ist. Dieser Brief von Frau Mathilde Klüppelberg ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie lebendig Familiengeschichte auch fern der Heimat bleibt, wenn sie von Generation zu Generation weitergetragen wird. Es ist ein Brief wie aus einem Guss und ich habe lange überlegt, welche Ausführungen ich für unsere Kolumne nehmen kann, bis ich mir sagte: Kein Stück­werk, wir bringen das ganze Schreiben. Und hier ist es:

„Sehr geehrte Frau Geede, seit langem nahm ich mir vor, Ihnen bezüglich meiner Suche nach der Familie meines Großvaters und Großonkels zu schreiben. Nachdem ein Urlaub beendet ist, sagte ich mir ,Nuscht is nu all!‘, und der Antrieb war gegeben, einige Stationen meiner Suche zu schildern. Denn, wenn man wie Sie und die vielen anderen regen Ostpreußen überall tatkräftig bis ins fortgeschrittene Alter wirkt, warum sollte es dann mir, einer Enkelin und Tochter einer Ostpreußin, deren Vorfahren gewiss bereits zur Ordenszeit in dem geheimnisvollen und fordernden Land Ostpreußen weilen, nicht gelingen, endlich mein Vorhaben umzusetzen?

2009 und 2010 waren Sie so freundlich und setzten meine Suchanzeigen in Ihre Rubrik ,Die ostpreußische Familie‘. Nun, neue Erkenntnisse zum Lebenslauf meines Opas, Gustav Herbst, und seiner Familie hat es nicht gegeben. Dafür aber viele nette Kontakte mit großartigen Menschen. Einer davon war die Diakonisse Else Scheffler, die mit ihren Brüdern Spielgefährten meiner Mama und deren Geschwister waren. Leider verstarb die bemerkenswerte Frau in diesem Jahr. Meine für sie nach ,oben‘ gerichteten Wünsche sind die allerbesten. Möge sie ihre Liebsten in fröhlicher Runde wieder um sich versammeln können.

Es war eben eine gute Nachbarschaft in Antbudupönen/ Vorm­walde. Es wurde geneckt,­ gelacht. Man hatte einen blauen Himmel über sich, die Weite der Landschaft und scheinbar alle Freiheiten dieser Welt – bis die Eltern ernst schauten. Da gab es nur ein zufriedenes Folgen. Und wie sagte meine Mutter immer verschmitzt lächelnd: ,Egal, wie wir uns abmühten, die Nachbarskinder waren immer besser, schneller und geschickter.‘ Gegenüber lag der Hof ihrer besten Freundin Greta Himmert und deren Brüder und Eltern. Im Gegensatz zu meiner dunkelhaarigen und grünäugigen Mutter eine helle und strahlende Person, etwas stabil, mit dicken blonden Zöpfen. Der Lehrer meinte zu meiner Mutter: ,Ihr habt bestimmt Franzosen in der Ahnenreihe!‘ Wie auch immer: In der Großen Wildnis spielte die Herkunft keine Rolle. Hier zählte nur eines: Anpacken, wo es nötig war, und niemals den Lebensmut sinken lassen. Sehr froh bin ich über diese Prägung noch heute. Es kamen keine leichten Zeiten für die vielen bäuerlichen Familien, die sich doch nur ein geregeltes, ruhiges Leben wünschten. Auch für die Nachkommen der Vertriebenen und Flüchtlinge nicht. Dennoch, egal wie hart das Schicksal zuschlug, meinte meine Oma: ,Morgen ist ein neuer Tag. So Gottchen will, wird es ein besserer Tag!‘ Wenn es knapper wurde, sagte Oma: ,Was frag’ ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin.‘ Solche erbaulichen Verse kannte sie zur Genüge. Danach wurde gelacht und gescherzt. Einen Klaps auf den Dups gab es nicht, der wurde nur angekündigt. Gäste erhielten das Beste zum Essen. Sie haben sicher bemerkt, dass auch ich gut im Plachandern bin.

Aber nun zu meinen Ausführungen bezüglich der Suche nach meinem Großonkel Otto Franz Bergau aus Erubischken/Hopfendorf, Schuhmacher und Bruder meiner liebsten Oma Minna Herbst. Leider überlebte er den Zweiten Weltkrieg nicht und das Schick­sal seiner Frau und das ihrer Kinder war bis vor kurzem nicht geklärt, sie galten als verstorben. Den letzten Blickkontakt hatte meine Mutter während der Flucht auf einem Bahnsteig. Eine Odyssee über verschiedene Etappen folgte. Die Angehörigen waren nicht vergessen, es gab aber neben großen gesundheitlichen Problemen auch viel zu tun. So geschah es, dass meine Oma und meine Mutti verstarben, ohne je ihre Heimat wiedergesehen zu haben, um offene Fragen klären zu können. Doch meine ich, dass sie die Heimat in ihren Herzen trugen. Schließlich hatten meine Schwester und ich – ,Hemske‘ genannt – immer ein offenes Ohr für ihre Geschichten. Wenn wir dann mit der typischen ,chen‘-Endung angesprochen wurden, fühlten wir uns wohl. Wo sonst hieß es im Rheinland ,Karolachen‘ und ,Martinchen‘? All den Erzählungen lauschend und auch den feuchten Glanz in den lieben Augen bemerkend prägte ich mir die genannten Namen ein, Namen, die zu Verwandten führten. Zu einem Dorf namens Jodeglienen, später in Moosheim umbenannt. Dort gab es jede Menge Verbindungen, von Krusen bis nach Wingern.

Die Familie Bergau war einmal aus Österreich gekommen. Ich befasste mich eingehender mit der Geschichte Ostpreußens. Welche grausamen und schrecklichen Heimsuchungen erlitt dieses Land: Kriege, Hungersnöte, Pest, Tatareneinfälle, Versklavung, Kindstod, Seuchen – ich war geschockt. Das war also das Land, dessen Verlust uns soviel Herze­leid brachte? Langsam aber, je mehr ich mich der Wahrheit näherte, erkannte ich: Das Kind, welches man mit größter Mühe und Arbeit auf den rechten Weg brachte, wird oft am meisten geliebt! Die Menschen, woher sie auch kamen, vereinte die Freiheits- und Naturliebe. Sie brauchten das Blau des Himmels, den Schrei der ziehenden Kraniche, das Werden und Vergehen. Sie lebten intensiver, je mehr sie den festen Boden spürten. Sie waren einfach ein Stück der Natur. Dazu aber auch Bildung, Kultur. Wenn man jung und kräftig war, gab es nichts, von dem man meinte, es nicht überwinden zu können.

Solche Gedanken gingen mir während der zwei Jahre intensiven Nachfragens und Forschens durch den Kopf. Leider fehlten mir noch immer die wichtigsten Daten zu dem Bruder meiner Oma. Angeregt durch den Kontakt zu ehemaligen Nachbarn aus Ostpreußen und ihren Erzählungen fragte ich noch einmal bei Frau Renate Wiese in Winsen/Aller bezüglich meines Großonkels nach. Ich wusste, dass er in ein Dorf in der Nähe des Wohnorts meiner Oma eingeheiratet hatte. Das erste in Frage kommende Dorf erwies sich nicht als richtig. Dort hatte er wohl nur eine Freundschaft mit einem Marjellchen. Oder war er doch gar verlobt gewesen?

Nun kam Frau Wiese zum Zuge. Und das, muss ich sagen, machte mich wirklich glücklich. Sie durchsuchte die Seelenlisten der nahe liegenden Dörfer und fand tatsächlich meinen Großonkel in Neu Skardupönen/Grenzwalde. Ich erfuhr den Namen seiner Ehefrau. Und auch, dass sie mit den Kindern überlebt hatte. Danach war ich geradezu gedopt. Viele Ämter wurden angeschrieben, viele Fragen gestellt. Ein Beamter eines Einwohnermeldeamtes fragte mich, warum ich mir das überhaupt antue, ich sollte doch lieber mein Leben genießen! Was würde es schon bringen, wenn der eine oder andere aus der Verwandtschaft überlebt hatte!

Aber hartnäckig verfolgte ich Stück für Stück den Weg der Ehefrau und Kinder meines Großonkels. Gebühren wurden fällig. Und nicht überall traf man auf hilfsbereite Menschen. Dann führten die Recherchen von drei Beamten zu der richtigen Adresse. Die letzte Anfrage erfolgte bei einer Mitarbeiterin eines Einwohnermeldeamtes. Sie war sehr kundig und zeigte sich als überaus kreativ. Genau gesagt: Sie war brillant! Es dauerte eine Dreiviertelstunde, dann hatte sie die von mir so heiß gesuchte Anschrift herausgesucht. Nun, sie durfte mir nicht allzu viel sagen. Wir verfielen in ein diskretes Frage- und Antwortspiel. Dieser Dame und den anderen hilfsbereiten Mitarbeitern ist es zu verdanken, dass ich demnächst Kontakt zu der mittlerweile 46-jährigen Enkeltochter meines Großonkels aufnehmen kann. Ich habe meinen inneren Frieden gefunden, die Familie meiner Oma ist wieder vereint.

Nun schaue ich auf das einzige Bild meines Opas Gustav Herbst, ein kleines Passbild. Nach unendlich viel Kleinarbeit liegt mir inzwischen eine Kopie seiner Sterbeurkunde vor. Von ihm weiß ich leider nur wenig. Von seinen Eltern kenne ich weder die Vornamen noch den Mädchennamen der Mutter, sie lebte im Grenzland, ihr Hof brannte im Ersten Weltkrieg nieder. Ein Teil der Familie dürfte in das Ruhrgebiet gegangen sein, andere sind wohl ausgewandert oder während des Ersten Weltkrieges verstorben. Es schmerzt schon, in sein Gesicht auf dem kleinen Foto zu blicken und zu wissen, dass es wohl keine Klärung auf meine Fragen geben wird. Was bewog seinerzeit seine Familie dazu, in die Große Wildnis zu gehen? Gewiss die Hoffnung auf ein besseres Leben. Einen jungen Mann von 45 Jahren sehe ich auf dem Foto, von der Arbeit und den Schmerzen seiner Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg gezeichnet. Nicht wissend, dass sein Leben bald beendet sein wird. Nachdem er sich freiwillig – leider umsonst! – als Grenzsoldat gemeldet hatte, um seinen eigenen Sohn vom Militäreinsatz fernzuhalten, verstarb er im Februar 1940 an der Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg im Krankenhaus der Barmherzigkeit in Königsberg.

Vielleicht war das gut so. Er hing so sehr an seinem hart erarbeiteten Hof. Er war dunkelhaarig, gelockt, die Augen dunkelbraun. Ein humoriger Mensch. Ich wünsche nicht nur ihm, dass er in einer anderen Welt seinen Frieden gefunden hat. Vielleicht kann er dort seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: sich in einem blühenden Bauerngarten auf einer Decke ausstrecken, um sich nach harter Arbeit auszuruhen – dem Spiel der Wolken zuschauend, dem Zwitschern der Vögel und dem Summen der Insekten lauschend.

Dies ist das Ende meiner kleinen Geschichte. Eine Geschichte über seine Verbindung zwischen dem, was war und dem, was ist. Wir sind ohne unsere Wurzeln nichts. Wir sind ein Teil derer, die vor uns waren. Wir werden ein Teil derer sein, die nach uns kommen. Ein Hauch prussischen Geistes füllt auch anscheinend meinen Geist.“

Soweit der Brief von Frau Klüppelberg, dem sie noch ihren Dank an unsere Arbeit für die Ostpreußische Familie anschließt, aus dem auch weiterhin hervorgeht, wie stark sie mit ihrer Urheimat Ostpreußen verbunden ist. Ich habe – bis auf einige unwesentliche Passagen – ihre Zeilen unverändert gebracht. Zu einigen offenen Fragen oder zu solchen, die man zwischen den Zeilen spürt, werde ich persönlich Stellung nehmen. Vor allem zu solchen, die die Siedlungsgeschichte der ehemaligen „Großen Wildnis“ betreffen, denn auch meine Vorfahren sind ja dort aus Salzburg eingewandert, um als Glaubensflüchtlinge eine sichere Heimstatt zu finden. Die dann zur Heimat wurde für alle, die nach ihnen kamen. Frau Klüppelberg nennt Ostpreußen ein „geheimnisvolles und forderndes Land“ – ich empfinde dies als eine geglück­te und beglückende Formulierung. Dafür sage ich Mathilde Klüppelberg meinen Dank.

Eure Ruth Geede


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