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06.08.11 / Seehundschnauzbart und Sprachfehler / Macken und Marotten großer Schriftsteller − Anekdoten aus dem Nachlass Walter Kempowskis

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-11 vom 06. August 2011

Seehundschnauzbart und Sprachfehler
Macken und Marotten großer Schriftsteller − Anekdoten aus dem Nachlass Walter Kempowskis

„Die Literaturgeschichte ist die große Morgue, wo jeder seine Toten aufsucht, die er liebt oder womit er verwandt ist. Wenn ich da unter so vielen unbedeutenden Leichen den Lessing oder den Herder sehe mit ihren erhabenen Menschengesichtern, dann pocht mir das Herz. Wie dürfte ich vorübergehen, ohne euch flüchtig die blassen Lippen zu küssen?“ − so sinnierte einst Heinrich Heine über seine literarischen Vorbilder.

Eine ebenso persönliche Schau auf bereits verstorbene und noch lebende Dichter liegt jetzt aus dem Nachlass von Walter Kempowski vor. Der Autor, der zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit zählt und durch seine autobiografischen Romane „Tadellöser & Wolf“ und „Ein Kapitel für sich“ berühmt wurde, verstarb 2007 im Alter von 78 Jahren. Zwischen 1997 und 1999 schrieb er für die „Welt am Sonntag“ kleine Autorenbiografien, die dank seines langjährigen Lektors Karl Heinz Bittel nun in Buchform erschienen sind.

„Umgang mit Größen“ eröffnet über die Hintertür kleiner Anekdoten und privater Erinnerungen den Zugang zu über 90 Dichtern von Johann Wolfgang von Goethe zu Stefan Zweig, von Honoré de Balzac zu Marcel Proust, von Fjodor Dostojewski zu Leo Tolstoi, von William Faulk­ner zu James Joyce.

Auch Trivialautoren wie Johannes Mario Simmel und Heinz Günther Konsalik kommen vor. Im Plauderton entwirft Kempowski mal bewundernde, mal respektlose Porträts seiner Schriftstellerkollegen, wobei es ihm keinesfalls um eine „objektive“ Würdigung geht. Ihn interessieren Macken und Marotten, Haar- und Barttracht, Ess- und Trinkgewohnheiten, Kleidervorlieben, Missgeschicke und Todesarten.

Den späten Böll nimmt Kempowski wegen seines „grauen Schnauzbartes“ aufs Korn, der ihn „zum Seehund verändert“ habe. Gustave Flaubert verehrt er nicht nur als den „Heiligen des Romans“, sondern auch als „Mann mit dem schönen Schnurrbart, der als Glückspilz antrat: Er zog nämlich die richtige Nummer und entging dem Militärdienst“. Max Frisch „hatte einen leichten Sprachfehler, was nicht auffiel, wenn er an seiner Pfeife sog“. Hesses fehlender Sinn für Humor lasse sich an seinem „Hemdkragen überm Jacket“ ablesen. Thomas Mann reduziert sich auf den „Mann mit der Warze“ im Gesicht, bei dem sich die Frage stellt, warum er sich diese nie entfernen ließ. Bei Ernst Jünger steht der Autor vor dem Rätsel, wie er sich angesichts des schleppenden Bücherverkaufs seine Käfersammlung, wertvolle Bücher und Reisen finanzieren konnte.

Walter Kempowskis künstlerische Bescheidenheit und seine Fähigkeit zur Selbstironie ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk. Wie ein schüchterner Schuljunge steht Kempowski vor Thomas Bernhard und findet nicht den Mut, sein Idol um eine Widmung ins „Poesiealbum“ zu bitten. Für ein Autogramm von Susan Sontag schickt Kempowski sogar seine Assistentin vor: „Ich selbst hätte mich nicht getraut, wie sie da auf dem Teppich saß“.

Den trinkfesten Uwe Johnson beschreibt er ängstlich als „grob, saugrob“ und mahnt zur Vorsicht, „sonst haut er dir noch einen an den Ballon“. Auch von Arno Schmidt fühlt sich Kempowski abgewiesen: „Gott, wie hat er mich abfahren lassen, und ich wollte ihm doch nur etwas Freundliches sagen.“

Lästerei und Ehrfurcht mischen sich im Kommentar zu seinem beleibten Lieblingsfeind Günter Grass: „Es fehlt mir das Faszinosum. Wenn ich den Raum betrete, reden die Leute einfach weiter. Kein Mensch dreht sich nach mir um.“ Und angesichts kurioser Namen wie Stanwix, den Melville seinem zweiten Sohn gab, bemerkt er bescheiden: „Unsereiner heißt bloß Walter!“

Kempowski unternimmt in seinem Buch einen amüsanten und anregenden Streifzug durch die Welt der Literaten. Einer Dichtergröße wie ihm verzeiht man als Leser die eine oder andere inhaltliche Ungenauigkeit und seine teils überholten Betrachtungen. Sophia Gerber

Walter Kempowski: „Umgang mit Größen − Meine Lieblingsdichter – und andere“, herausgegeben von Karl Heinz Bittel, Knaus Verlag, München 2011, gebunden, 288 Seiten, 19,99 Euro.


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