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20.08.11 / »Flüchtiger als flüchtig« / Journalist stellt einen philosophischen Nachruf auf bisheriges Leben an

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-11 vom 20. August 2011

»Flüchtiger als flüchtig«
Journalist stellt einen philosophischen Nachruf auf bisheriges Leben an

Die Welt verändert sich, sie ist in den letzten Jahrzehnten weniger verlässlich geworden, so Gabor Steingart in „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war“. „Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte waren wir derart unabhängig von den uns umgebenden Mächten. Es ist, als habe jemand die Großmagneten ausgeschaltet. Priester, Fabrikant, Parteifunktionär, Universitätsprofessor, Vater und Mutter oder auch Günter Grass, Alice Schwarzer und Helmut Schmidt, sie alle tanzen noch immer um uns herum, aber wir sind ihnen nicht mehr schicksalhaft verbunden. Früher konnten sie bestimmen, was der Einzelne zu tun und zu denken hat, heute werben sie darum, dass man ihnen zuhört“, so der ehemalige „Spiegel“-Mitarbeiter, der seit 2010 Chefredakteur des „Handelsblattes“ ist.

Anhand zugegeben ganz einfallsreicher Beispiele schildert er, dass sich Bindungen, die über Jahrhunderte den Alltag der Menschen bestimmt haben, innerhalb weniger Jahrzehnte aufgelöst haben. Dieser „Nachruf“ liest sich ganz nett, aber wirklich Neues bieten die melancholisch anmutenden Zeilen des Autors nicht. Und wäre dieser nicht einer der renommiertesten deutschen Journalisten, wäre das Buch ab Seite 50 möglicherweise von der Rezensentin nur quer gelesen worden, aber, wenn man schon als PAZ-Autorin einen Gabor Stein-gart verreißt, dann sollte man ihn schon Zeile für Zeile gelesen haben.

Und siehe da, Steingart überrascht dann doch noch ein wenig: „Das Industriezeitalter vergrößerte am Ende nicht das Elend der Arbeiterklasse, sondern beseitigte es … Jeder zweite Deutsche besitzt heute Wohnungseigentum, neun von zehn Deutschen nennen ein Automobil ihr Eigen, und nahezu jeder Haushalt verfügt über zwei Fernsehgeräte. Der Konsum wurde demokratisiert.“ Und von wegen Sozialabbau; der deutsche Wohlfahrtsstaat verdreifachte seine Ausgaben in den letzten 25 Jahren, zählt Steingart nun jene Verbesserungen für die Massen auf, die gerne verdrängt werden. Allerdings: „Das heutige Deutschland lebt noch immer von jener altmodischen Normalität, als Mann und Frau Kinder zeugten und nicht nur Sex hatten. Doch fehlende Babys werden bald schon fehlende Arbeiter und Angestellte … Die größte und langlebigste Rentnergeneration der europäischen Geschichte ist im Anmarsch“, setzt der 1962 Geborene nun doch wieder seinen Nachruf fort und gibt seinen Lesern, den Bürgern, somit offen die Schuld am Ende der Normalität. Hätten sie mehr Kinder bekommen, wären sie weiter Stammkunden, statt immer nur auf das billigste Angebot zu schielen, dann müssten Controller in Firmen − und immer öfter auch Behörden – nicht verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, Kosten zu sparen. Dann beschreibt Steingart ganz Nachruf-gemäß den Niedergang der USA und des Bankensystems, erklärt, wieso die Politik fortwährend  die Hoffnungen der Wähler enttäuscht, und bietet dem gut informierten Leser wieder wenig neuen Erkenntnisgewinn.

Dann, gegen Ende, wird der Autor aber noch philosophisch und bietet immerhin eine nett formulierte Lebensweisheit: „Heute leben wir in einer Welt der Ungewissheiten. Keiner hat sein Los in der Tasche. Es wird immer neu gezogen … Wir halten die Freiheit in der Hand, aber die Sicherheit ist uns entwischt … Die Freiheit ist flüchtiger als flüchtig … Hat der Einzelne eine Idee, was er mit ihr anstellen wird, schmiegt sie sich an ihn. Lebt der Einzelne im Gefängnis seiner Ängste und Selbstzweifel, wird er die Möglichkeiten, die die Freiheit ihm bietet, nie ergreifen können.“       Bel

 

Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war“, Piper, München 2011, gebunden, 176 Seiten, 16,95 Euro.


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