25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.08.11 / Ein Staat, zwei Länder / Ukraine – »an der Grenze« zwischen Ost und West

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-11 vom 27. August 2011

Ein Staat, zwei Länder
Ukraine – »an der Grenze« zwischen Ost und West

Wer nicht von 3000 Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben“, ließ Goethe im West-Östlichen Diwan eine Lebensweisheit aufblitzen. Am Beispiel des Geschickes der Ukraine lässt sich die Wirkmächtigkeit uralter geschichtlicher Prägungen ablesen. Das Land der großen Ebene am Rande Europas ist erneut in Aufruhr, seine Bewohner geplagt vom Kampf um das tägliche Brot. Die Ikonen der Orangenen Revolution von 2004/05, der von einem Giftanschlag gezeichnete Viktor Juschtschenko und die schöne Julia Timoschenko, haben in Kabale und Hass-Liebe Ansehen und Macht verspielt und Hoffnungen enttäuscht. Als „zerrissenes Land“, als „Land der kulturellen Schizophrenie“ charakterisiert Samuel Huntington die Ukraine in seinem berühmten Buch vom „Kampf der Kulturen“ – und widmet ihr dort breiten Raum. Durch das Herz der Ukraine verlaufe eine Bruchlinie. Der erst seit 20 Jahren unabhängige Staat ist „tief gespalten in den unierten, nationalistischen, ukrainischsprachigen Westen und den orthodoxen russischsprachigen Osten“. Huntingtons These von der janusköpfigen Ukraine, deren zwei Gesichter nach Osten und Westen blicken, wird noch bei einem Blick auf die Ergebnisse der Stichwahl um das Präsidentenamt vom 21. November 2004 bestätigt. Der prowestlich orientierte Juschtschenko erhielt nordwestlich des Dnepr Stimmenanteile von mehr als 70 Prozent, in den Oblasten rund um Lemberg sogar über 90 Prozent; sein russophiler Konkurrent Janukowitsch lag in der Schwarzmeerregion, am Unterlauf des Dnepr und im Südosten klar vorn, im Kohlerevier des Donezbeckens errang er Zustimmungsraten jenseits von 92 Prozent. Die Grenzlinie zwischen beiden Lagern scheint geschichtlich zementiert – markiert sie doch eine Scheidelinie zwischen den Kulturkreisen und Konfessionen: Es ist in etwa die Staatsgrenze, die Mitte des 17. Jahrhunderts zwischen der polnisch-litauischen Adelsrepublik und dem Khanat der Krim verlief, einem Nachfolgereich der tatarischen Goldenen Horde, das unter der Schutzherrschaft des Osmanischen Reiches stand. Später eroberte das Russische Reich diese Gebiete für sich.

Seit den Freiheitskriegen der Kosaken unter Bogdan Chmielnitzki gegen die polnische Vorherrschaft steht die „Kaffee-Tee-Grenze“ scheinbar unwiderruflich: Der größere, östliche Teil der Ukraine gliederte sich 1654 dem Zarenreich an, während die Westgebiete in der Rzeczpospolita verblieben – bis mit der Ersten Polnischen Teilung 1772 Galizien und die Bukowina für fast 150 Jahre an die Habsburger fielen. Es sind dies mithin jene Gebiete, in denen heute die ukrainische National- und die demokratische Freiheitsbewegung ihre Hochburgen hat. Kamen die Ukrainer im Westen bald in den Genuss der liberalen konstitutionellen k.u.k. Doppelmonarchie, erlitten ihre Landsleute unter der zaristischen Despotie eine erbarmungslose Russifizierungspolitik. Schon die etymologische Bedeutung von Ukraine als „am Rande“, „an der Grenze“ weist auf ihre Rolle als Bindeglied zwischen Westeuropa und dem Mos­kauer Reich.           Christian Rudolf


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren