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27.08.11 / Schon dem Zaren dienten sie als Sündenböcke / Vor 70 Jahren verfügte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Deportation der Deutschen aus dem Wolgagebiet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-11 vom 27. August 2011

Schon dem Zaren dienten sie als Sündenböcke
Vor 70 Jahren verfügte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Deportation der Deutschen aus dem Wolgagebiet

Die kollektive Verschleppung der Russlanddeutschen aus dem europäischen Teil der UdSSR nach Sibirien und Kasachstan ist ein rabenschwarzes Kapitel in der Geschichte der Großmacht im Osten. Es ist weder durch Geschichtsklitterungen aus der Welt zu schaffen, noch kann es allein mit der verbrecherischen Persönlichkeit Josef Stalins erklärt werden.

Ein Teil der Vorgeschichte ist bereits in den letzten Jahrzehnten der Zarenherrschaft und verstärkt im Ersten Weltkrieg auszumachen. Der sich rasch vergrößernde Landbesitz vor allem der schwarzmeerdeutschen Kolonisten in der heutigen Südukraine sowie die zunehmende Verbreitung des protestantischen Glaubens unter der orthodoxen Bevölkerung dieser Landstriche, der sogenannte Stundismus, riefen antideutsche Pressekampagnen hervor, die durch das Unbehagen angesichts der wirtschaftlichen und militärischen Dynamik des wilhelminischen Deutschen Reiches zusätzlich genährt wurden.

Im Ersten Weltkrieg, den der Zar sofort zu einem „Vaterländischen Krieg“ vor allem gegen das Deutsche Reich und alle Deutschen erklärt hatte, mussten die eigenen deutschstämmigen Bürger sehr bald als Sündenböcke herhalten. Nach den vernichtenden Niederlagen in Ostpreußen wurden auf Drängen des Militärs die pauschal der Spionage verdächtigten deutschen Kolonisten, aber auch Juden aus den frontnahen Gebieten in das tiefe Hinterland zwangsumgesiedelt. Von diesen ersten Deportationen waren Ende 1914 und 1915 rund 200000 Deutsche insbesondere in Russisch-Polen, Wolhynien und Podolien betroffen. Obwohl die Treue der Russlanddeutschen zum Zarenregime bekannt war und etwa 250000 von ihnen als Offiziere und Soldaten gegen die Mittelmächte kämpften, entstand im Laufe des Krieges ein gesetzliches Regelwerk zur Liquidierung des deutschen Landbesitzes.

Dass es schon damals schlimmer kam, verhinderten wohl nur die Februarrevolution von 1917 und die Machergreifung der Bolschewiki. Insbesondere die Wolgadeutschen standen diesen in ihrer Mehrheit zunächst keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber, zumal ihnen Lenins Nationalitätenpolitik das Recht auf eine sprachlich-kulturelle Eigenentwicklung samt Territo­ri­alautonomie zubilligte. So wurde die 1918 gegründete Deutsche Kommune an der Wolga 1925 zu einer Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) aufgewertet; außerdem bildeten sich nationale Landkreise (Rayons) in der Ukraine, auf der Krim, im Nordkaukasus, im Südural und in Sibirien. Obwohl angesichts der Rahmenbedingungen im zentral gelenkten kommunistischen System von einer wirklichen lokalen Selbstverwaltung nicht die Rede sein konnte, gab es doch einige institutionelle Errungenschaften und die ethno-kulturelle Substanz der Deutschen im Sowjetreich schien gesichert.

Bereits Mitte der 30er Jahre änderte sich allerdings die Lage grundlegend. Das vom Ziel der schnellen Weltrevolution strategisch abrückende Stalin-Regime setzte fortan auf sowjetrussischen Patriotismus und rigiden Zentralismus. Man witterte überall innere wie äußere Verschwörungen und schottete sich ab. Sogenannte „feindliche Nationalitäten“ als mutmaßliche Fünfte Kolonnen ausländischer Mächte waren nun das Ziel von Massenverhaftungen und „prophylaktischen“ Deportationen. Bereits 1935 wurde das Leningrader Gebiet von seiner finnischen Minderheit durch vollständige Aussiedlung „ethnisch gesäubert“, im Folgejahr fielen in der Sowjetukraine 69000 polnische und deutsche Grenzbewohner der Verbannung nach Nordkasachstan zum Opfer, ehe 1937 das Los der Deportation 170000 aus dem Fernen Osten nach Mittelasien umgesiedelte Koreaner traf. Im Zuge des Großen Terrors von 1937/38 starben überdurchschnittlich viele Angehörige der Diaspora-Minderheiten; der Anteil ermordeter Deutscher lag mit 14,7 Prozent bei nur 1,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung besonders hoch. Ein Fünftel der deutschen Männer in der Ukraine zwischen 20 und 59 Jahren kam in diesen beiden besonders schrecklichen Jahren um.

Mit dem Zweiten Weltkrieg radikalisierte sich die kommunistische Politik gegen „unliebsame“ Völker nochmals. 1940/41 traf es Hunderttausende Polen, Ukrainer, Juden, Moldauer, Esten, Letten und Litauer, die aus den annektierten Gebieten im Westen in die asiatischen Landesteile verschleppt wurden. Nach dem deutschen Angriff auf die Sow­jetunion und dem überraschend schnellen Vorrücken der Wehrmacht mussten die „verräterischen“ Russlanddeutschen wiederum als Sündenböcke herhalten. Bereits ab Mitte August 1941 begann eine völlig unorganisierte Räumung der Krim von den dort beheimateten rund 53000 Deutschen, die zunächst in den Nordkaukasus gelangten.

Auf einer geheimen Politbüro-Sitzung vom 26. August 1941 ordnete Stalin dann die Auflösung der Autonomen Wolgarepublik und die Zwangsumsiedlung ihrer deutschen Bewohner unter Federführung des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) an. Zwei Tage später erfolgte die formaljuristisch notwendige Zustimmung durch das (machtlose) Staatsoberhaupt Michail Kalinin, der im Namen des Obersten Sowjets den Ukas „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rayons leben“ unterzeichnete. Der Erlass unterstellte den Deutschen das Vorhandensein von „Tausenden und Zehntausenden Diversanten und Spionen“ in ihren Reihen, die „nach einem aus Deutschland gegebenen Signal“ Sprengstoffanschläge verüben sollten. Die Verbannung anderer russlanddeutscher Volksgruppen beispielsweise aus den noch nicht besetzten Teilen der Ukraine, aus dem Kaukasus oder aus Großstädten wie Moskau, Leningrad und Saratow verlief in den nachfolgenden Wochen und Monaten auf der Grundlage zusätzlicher geheimer Regierungsbeschlüsse.

Bis Ende 1941 wurden im Zuge der größten Deportation der Sow­jetgeschichte 794059 Deutsche aus dem europäischen Landesteil allein aus ethnischen Gründen nach Sibirien und Kasachstan „umgesiedelt“, darunter 438715 Wolgadeutsche. Es handelte sich um eine totale Vertreibung und Entrechtung der Opfer, verbunden mit der Ausmerzung all ihrer kulturellen Spuren.

Sämtliche russlanddeutschen Deportierten, auch die während des „Großen Terrors“ noch nicht ermordeten Angehörigen der politischen und kulturellen Eliten sowie die bis dahin im Felde stehenden deutschstämmigen Soldaten, kamen in entlegene ländliche Verbannungsorte. Fast alle Jugendlichen und Erwachsenen mussten in Arbeitslagern beim Eisenbahnbau, in Industriebetrieben, Bergwerken oder beim Holzfällen in den endlosen sibirischen Wäldern schuften. Keine andere Volksgruppe in der Sowjetunion wurde in dem Maße physisch ausgebeutet wie die etwa 350000 russlanddeutschen Zwangsarbeiter. Ihre Sterblichkeitsrate lag laut Hochrechnungen aus einzelnen Lagern bei über 20 Prozent. Die bösartige kollektive Stimmungsmache gegen die „deutschen Faschisten“ dauerte jahrelang an und schwächte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur langsam ab. Längst hatten die geschürten Ressentiments bei den anderen Nationalitäten Eingang in das Bewusstsein breiter Schichten gefunden und das Verhältnis zu den deutschen Mitbewohnern nachhaltig vergiftet.

Der Neubeginn der entwurzelten, in sozialer Hinsicht völlig durcheinander gewirbelten und auf sich gestellten Russlanddeutschen war somit von einer schweren Hypothek belastet, die ihre ethno-kulturelle Zukunft im sow­jetischen beziehungsweise postsowjetischen Machtbereich außerordentlich problematisch erscheinen ließ oder sie vielleicht von vornherein unmöglich machte. Letzteres auch deshalb, weil die Führung in Moskau zu keiner Zeit willens war, die zögerliche Rehabilitierung der deutschen Opfer mit einer umfassenden Wiederherstellung ihrer Bürgerrechte einschließlich des Rechts auf Heimat zu verknüpfen. Die Aussiedlung in den binnendeutschen Raum war nur eine Frage der Zeit und der politischen Umsetzbarkeit.  Martin Schmidt

Deutsche Hochschulen, Theater, Orchester und Bibliotheken mussten schließen, Unmengen an Büchern wurden verheizt, und fast alle Bestände des erst 1925 gegründeten Zentralen Museums der ASSR der Wolgadeutschen in Engels sowie andere kostbare Sammlungen gingen durch unsachgemäße Lagerung oder schlichtweg durch Raub und Plünderung für alle Zeiten verloren. Deutsche Ortsbezeichnungen verschwanden flächendeckend, sodass es fortan an der Wolga kein Balzer und kein Mariental mehr gab, sondern nur noch ein „Krasnoarmejsk“ beziehungsweise „Sowetskoje“.


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