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10.09.11 / Hinterm Schlagbaum / Als zehnjährige Schülerin zum ersten Mal an der innerdeutschen Grenze

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-11 vom 10. September 2011

Hinterm Schlagbaum
Als zehnjährige Schülerin zum ersten Mal an der innerdeutschen Grenze

Am frühen Morgen zuckelte der Bus mit uns Viertklässlern in Richtung deutsch-deutsche Grenze. Das Dorf, in dem unsere Schule stand, befand sich irgendwo im Niedersächsischen. Eine halbe Stunde Fahrt hatte es gedauert, dann lag er vor uns, der ost-westliche Äquator. Der Bus stoppte ganz in der Nähe eines Schlagbaumes und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. Endlich durften wir alle aussteigen. Auf einem kleinen weißen Schild, direkt am wegversperrenden Holzhindernis, stand: „Halt! Hier Grenze. Bundesgrenzschutz“. Hinter dem „Halt“ hatten sie ein Ausrufungszeichen gemalt. Das machte Eindruck und sah aus, als ob uns jemand anbrüllte. Das Fräulein erklärte irgendwas, aber sicher hörte niemand von uns so richtig zu. Dass da drüben auch Deutschland sei und wir doch alle froh sein können, hier in Freiheit zu leben, sagte sie und wir Kinder standen ein wenig ernst guckend herum, verstanden aber nicht viel und hofften, dass das niemand merkte. Sie bot uns wenig, die Grenze. Man sah nichts, konnte immer nur ahnen und was die Großen da gemacht hatten und warum das Ganze, blieb uns sowieso verschlossen. Ich sah in die Richtung, die alle Erwachsenen immer als „Drüben“ bezeichneten. Viel war nicht zu entdecken. Ein wenig Landschaft, dann nichts mehr und dann kam wohl wieder ein Zaun, aber den konnte man gar nicht so genau erkennen. Irgendwo, ganz weit weg, bellte ein Hund. Wie der wohl aussah, ging es mir durch den Kopf. Und wem er wohl gehörte? Ich malte mit dem Fuß im Sand herum und dachte an meinen Vater, der fast täglich auf diese Grenze schimpfte. Er kam von „Drüben“ und wollte dort nie im Leben wieder hin. Solange ich mich erinnern konnte, hatte er keinen einzigen Satz, der sich mit diesem „Drüben“ beschäftigte, in ruhigem Ton gesprochen. Immer wurde er dabei furchtbar wütend. Ich verstand sehr früh, dass man ihm die Heimat genommen hatte und er diesen neuen Staat da „Drüben“ nie mehr betreten wollte.

„Wie kann man nur ein ganzes Land einsperren?“, rief er laut und schüttelte den Kopf, fing dann meistens an zu fluchen und meine Mutter hielt mir die Ohren zu. Wenn wir zuhause aus Versehen oder in der Annahme mein Vater befand sich außer Reichweite, den Ostfernsehkanal anschalteten, gab es meistens Krach. Denn genau in dem Moment, wenn Professor Flimmrich seine Märchenstunde ankündigte, kam mein Vater ins Zimmer und brüllte, dass wir sofort die Ostzone ausschalten sollten. Montags um 20 Uhr, passend zum Beginn der „West-Tagesschau“, stolperte im feindlichen Ostkanal Willi Schwabe mit einer alten Laterne nach Klängen der Nußknacker-Suite in seine verstaubte Rumpelkammer. Dort holte er alte Filme aus Blechdosen und Schubladen und man konnte sich, angesichts dieser harmlosen Ufa-Filmausschnitte, gar nicht vorstellen, dass es da mal einen Krieg gegeben hatte und wir alle nun mitten in seiner erkalteten Fortführung lebten.

Ich musste unbedingt Fräulein Pröve davon erzählen, dass mein Vater aus dem Osten kam und meine Mutter aus dem noch viel östlicheren Osten. Da, wo sie geboren wurde, hieß heute nichts mehr wie vorher. Selbst alle Verwandten hatten nun andere Namen, die man nicht aussprechen konnte, weil sie auf Polnisch waren. Hier vor diesem langweiligen Baumstamm, der quer über die Straße gelegt jede Weiterfahrt verhinderte, schien mir der richtige Ort dafür zu sein, von heimischen Erfahrungen mit dem „Drüben“ zu berichten. Enthusiastisch begann ich meinen Satz mit „Wo ich mal ...“, aber meine angebetete Lehrerin korrigierte mich sofort und dann hatte ich keine Lust mehr, noch weiter zu erzählen. Ich lernte vor diesem Schlagbaum, dass man einen Satz mit „als“ beginnt. Es machte mir viel aus, von meiner Lehrerin gerügt zu werden, denn ich hatte sie eigentlich gern. Vollends verdarb ich es mir, als ich vorhatte, einen Fuß hinter den Schlagbaum zu setzen. Ich hob meinen Schuh und meine Stimme, sah etwas verschmitzt zum Fräulein und fragte: „Und was ist, wenn ich jetzt mal dahinter gehe?“ Das Fräulein regte sich furchtbar auf, schrie mich fast an und zog mich zurück. Schimpfte, dass ich das aber sofort sein lassen sollte, sonst ... Was im Satz hinter dem „Sonst“ kam, hörte ich nicht mehr, denn ich hielt mir die Ohren zu in der Hoffnung damit ihrer Schimpfkanonade zu entgehen.

Interessiert beobachtete ich in den folgenden Jahren den Ost-Fernsehfunk. Immer nachmittags, wenn mein Vater nicht da war. Und außer Staatsbürgerkunde, das mir spannende Einblicke in den Sozialismus und seine Ziele brachte, gab es da noch den Englisch-Unterricht einer ganz in Grau gekleideten Dame mit Brille und kariertem Kleid in einer Dekoration aus Pappmaché. Sie sagte immer „Goodbye viewers“ und „that´s all for today“ und ich hing an ihren Lippen. Der Empfang war schlecht und das Bild ein wenig verzerrt, dennoch besuchte man die Orte in der britischen Hauptstadt, in denen Karl Marx sich aufgehalten hatte. So stand Mrs. Karierteskleid vor einem Marx- und Engels-Denkmal und war ergriffen. Ein Mann, der sich Dean Reed nannte, ungewöhnlich gut aussah, nicht berlinerte, und auch sonst etwas Weltmännisches hatte, sang ein Lied „If I had a hammer“, bei dem ich ein ungutes Gefühl bekam..

Ein paar Jahre später lernte ich  die Grenzanlagen kennen, auf dem Transit nach West-Berlin. Dazu brauchte man furchtbar viele Papiere. Ich musste zur Sekretärin unseres Bügermeisters im Ort, um mir einen Pass zu besorgen. Sie kam einmal die Woche aus der Kreisstadt, saß in einem dunklen Raum, gleich neben den Schweineställen und war ansonsten sehr freundlich. Dann begann sie mich zu vermessen. Sie schrieb alles auf und machte es mit vielen Stempeln amtlich. Doch ohne das ging es ja nicht und dann fuhr ich zum ersten Mal durch dieses Land hinter der Grenze. Neugierig wollte ich endlich erfahren, was sich hinter dem Schlagbaum verbarg. Aber man hatte die Autobahn fernab von jeder menschlichen Ansiedlung gelegt. Kein einziger Blick auf die Bewohner und Orte des Landes war möglich.

Wir kamen in Westberlin an und vergaßen, angesichts der Größe, dass man gerade eine ummauerte Stadt eroberte. Bis man das Brandenburger Tor besuchte. Dort standen wir auf einem Gestell aus Holz und sahen nach „Drüben“. Und ich glaube, ich habe dort Peggy, James Dean und Mrs. Karierteskleid gesehen. Sie flanierten über den ehemaligen Prachtboulevard „Unter den Linden“ und sahen für einen Moment zu mir hinüber. Ich bin froh, dass sie nicht gesungen haben.   Silvia Friedrich


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