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17.09.11 / Die preußische Tugend der Zuverlässigkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-11 vom 17. September 2011

Gastkommentar
Die preußische Tugend der Zuverlässigkeit
von Günter Scholdt

Zugegeben: Neulich habe ich die Fassung verloren. Und so entlud sich über einen Bekannten ein Gewitter des Zorns, das den Überraschten persönlich wie kollektiv entgelten ließ, was mir seit Jahrzehnten zunehmend bitter aufstößt. Es traf keinen Falschen, denn er hatte mich schon mehrfach durch nicht eingehaltene Versprechungen gereizt. Und dass durch seine Flapsigkeit nun auch noch eine ärgerliche Terminkollision verursacht wurde mit bedauerlichen Folgen für einen Vortragsabend, brachte das Fass zum Überlaufen.

Unser Streit betraf also konservative, preußische beziehungsweise sogenannte Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, und ich hätte hier gewiss kein Wort über einen privaten Disput verloren, wenn es sich um eine Einzelepisode handelte. Ich komme mir jedoch mittlerweile schon fast wie ein Fossil vor, wenn ich von meiner Umwelt Mindeststandards an Verlässlichkeit erwarte. Wohlgemerkt rede ich nicht nur von sprichwörtlich säumigen Handwerkern, die im Übrigen häufig sogar besser sind als ihr Ruf. Mein beruflich bedingter Bekanntenkreis setzt sich vielmehr meist aus Vertretern des Meinung und Gesinnung beeinflussenden gehobenen Bürgertums zusammen, bei denen ich inzwischen mehrheitlich derartige Defizite ausmache.

Just bei dieser Gruppe schätze ich, dass es keine 50 Prozent mehr sind, die stets absprachegerecht Zusagen einhalten. Stattdessen werde oder wurde ich in keineswegs nur belanglosen Angelegenheiten vielfach immer wieder vertröstet, bis das ganze Projekt im Nirwana verdämmerte. Eine Intendantin aus K. (jetzt in S.) sagt mir eine Theateraufführung für die nächste Saison mit „mehr als 80 Prozent“ Gewissheit zu. Drei Jahre später kann sie sich an nichts mehr erinnern. Rückfragen sind ihr sichtlich lästig, werden kaum noch beantwortet.

Ausgeliehenes kommt nicht zurück. Journalisten und -innen bedienen sich meiner schnellen Hilfe, erhalten Bücher und Texte, auf deren Rückgabe ich dann jahrelang warte. Radio- und Fernsehredakteure versprechen mir für kostenlose zeitraubende Interviews als Gegenleistung wenigstens Mitschnitte, um dies schnellstens zu vergessen. Ein Glück, wenn man nach (mehreren) Erinnerungen wenigstens die Materialien wieder in Händen hält.

Mittlerweile gilt die Regel, dass ich etwa jeden dritten Vorgang erneut anmahnen muss. Ein Abteilungsleiter des Rundfunks in S. gestand einmal in – soll ich sagen: sympathischer – Offenheit, er habe sich abgewöhnt, Briefe zu beantworten. Selige öffentlich-rechtliche Medienanstalten! Eine Kollegin, von mir im Interesse einer Doktorandin an die fristgerechte Abgabe ihres Zweitgutachtens erinnert, antwortete pampig: „Wenn Sie sich das leisten können …“

Natürlich verkenne ich den chronischen Zeitmangel nicht, der uns heute anscheinend als Massenepidemie befallen hat. Wir werden von Informationen, Innovationen und Attraktionen überflutet und von einem Event zum anderen gehetzt. Wer soll sich da noch an sein versprochenes „Geschwätz von gestern“ erinnern? Aber galt das nicht eigentlich schon immer für Hochbeschäftigte unter den Bedingungen ihrer Zeit? Sind nicht mit größeren Anforderungen zugleich auch die Mittel gewachsen, ihrer Herr zu werden?

Ein Ernst Jünger, wahrlich kein Eremit, der vor unzähligen Anliegen unbehelligt geblieben wäre, könnte hier manches lehren. Zeugen doch die vielen Tausend seiner Briefantworten von besonderem Etikettebewusstsein und einer Selbstverpflichtung zum – wie er es nannte – Dienst „pour le roi de Prusse“. Im Übrigen besteht gerade konservatives Handeln darin, Prioritäten zu setzen und sich zu beschränken. Eine triftige Anfrage (in anständigem Ton) verdient gewiss Antwort. Aber die kann knapp ausfallen und gegebenenfalls nur das Bedauern enthalten, hier nicht helfen zu können.

Befreien wir uns vom Irrglauben, es allen recht machen, bei jedem Rummel dabei sein zu müssen. Warum eigentlich täglich Flagge zeigen, twittern, mitdiskutieren, mitgestalten oder -entscheiden? Schon aus Zeitgründen geht das nicht, ganz zu schweigen von der Kompetenz. „Ultra posse nemo obligatur“, sagten bereits die Römer. Jeder sei nur zu dem verpflichtet, was tatsächlich in seiner Macht steht. Und Zeit gehört gewiss zu den Ausschlussfaktoren.

Um sich das einzugestehen, gehört eine weitere preußische Tugend dazu: Realismus. Und um es anderen mitzuteilen, heute offenbar fast schon Mut respektive Zivilcourage. Denn man vertröste nicht auf ein ominöses Später, wenn man nie ernsthaft vorhatte, sich tatkräftig zu beteiligen. Man finde nicht alles toll, was uns zugleich utopisch beziehungsweise illusionär erscheint, und fingiere keine Kooperationsabsicht ohne entsprechende Bereitschaft und Tatkraft. Wer aber zusagt, stehe zu seinem Wort!

Halten wir ein mit der Frage, ob hier nicht Menschlich-Allzumenschliches zu einem quasipolitischen Zeitgeist-Phänomen aufgeblasen wird. Nun, zunächst einmal berühren solche Haltungen, die früher allenfalls in halbseidenen Intellektuellen- und Künstlerkreisen auf Nachsicht stießen, in der Tat bereits die Staatssphäre, da sie offenbar zunehmend gesellschaftsfähig geworden sind. Hier hat eine seit Jahrzehnten gesteigerte Abwertung der „Sekundärtugenden“, die nach dem bösen Ausspruch des Hauses Lafon-taine auch zum KZ-Betrieb taugten, in zahlreichen Köpfen Verheerendes angerichtet.

Sodann lässt sich Privates gar nicht so fein vom Öffentlichen trennen. Wo sollten sie schließlich herkommen, unsere Staatsmänner und -frauen, deren Einstellung auf diese Weise geprägt ist? Wie können wir erwarten, dass sie sich in Amt und Würden plötzlich ganz anders verhalten, als sie das gewohnt sind? Natürlich vertrösten auch sie ihre Wahlschäfchen auf ein Morgen oder Übermorgen und am liebsten auf Zeiten, in denen sie keine Verantwortung mehr tragen. Versprechen das Blaue vom Himmel oder zerfetzen alle rhetorisch, die gängige Sozialwünsche an realen Voraussetzungen messen.

Natürlich finden in ihren Sprechblasen-Reden die nackten, ernüchternden Zahlen wenig Raum zugunsten der kühnen Behauptung, wenn Kandidat(in) X oder Y die Sache erst mal anpacke, färbe sich der Himmel rosarot. Und in solchen populären Szenarien verdämmern dann wirkliche Probleme im Nichts, als da sind: Schulden, Demografie- und Migrationsfolgen, Volksgesundheit und medizinische Versorgung.

Wo alle sich höchste Schul- oder Universitätsabschlüsse wünschen, senkt man eben die Anforderungen, wo Unerquickliches aus der Kriminalitätsstatistik lugt, wird diese verschleiert. Wo Lösungen von ungebetener Seite angemahnt werden, werkeln wir an Meinungsknebelungsgesetzen und diversen Praktiken zur Verhinderung einer ernsthaften politischen Alternative.

„Bloß nicht den Dingen ins Auge sehen“, lautet die Devise. Schönreden als Gesundbeterei hat Konjunktur. Insofern schließt sich der traurige Kreis: Eine Bevölkerung, die mehrheitlich Sedativa verlangt, trifft auf eine Politikerkaste, die dergleichen ohnehin zu verschreiben gewohnt ist. Sarkastisch formuliert: Das Volk hat diejenige Regierung, die ihm entspricht.

 

Der Germanist Prof. Dr. Günter Scholdt war bis zu seiner soeben erfolgten Emeritierung Leiter des Saarbrücker Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass. Wichtigstes Werk: „Autoren über Hitler“ (1993). Im Verlag Edition Antaios publizierte er kürzlich den Essay „Das konservative Prinzip“.


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