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08.10.11 / Weinstock überstand Feuer und Kriege / Marburg an der Drau wird neben dem portugiesischen Guimarães Kulturhauptstadt 2012

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-11 vom 08. Oktober 2011

Weinstock überstand Feuer und Kriege
Marburg an der Drau wird neben dem portugiesischen Guimarães Kulturhauptstadt 2012

Marburg an der Drau wird Europäische Kulturhauptstadt 2012. Die zauberhafte Altstadt und ein rekordverdächtiger Weinstock lo–cken schon jetzt Besucher aus aller Welt an.

Rekordverdächtig sieht das beschauliche Städtchen Marburg an der Drau nicht aus: Die roten Ziegeldächer der Altstadt leuchten aus der grünen Hügellandschaft der südlichsten Alpenausläufer. Die Innenstadt mit ihren Bürgerhäusern aus der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Zeit ist inzwischen weitgehend renoviert. Dazwischen erinnern wuchtige graue Betonklötze und mehr oder weniger abbruchreife Altbauruinen an die realsozial–istische Stadtplanung des untergegangenen Jugoslawien. Und doch hat es Marburg an der Drau – neben Guimarães, eine Stadt im Norden von Portugal, die Europäische Kulturhauptstadt 2012 – vor sieben Jahren mit einer einmaligen Attraktion ins Guinessbuch der Rekorde geschafft: An einem unscheinbaren Haus wächst der älteste Weinstock der Welt. Für Jernij Lubej ist er eine Frau und ein absolutes Phänomen: „Sie ist schon in ihrem neunten Leben“, schwärmt der Museumsführer von der Sehenswürdigkeit in Marburg an der Drau, die es bis ins Guinessbuch der Rekorde geschafft hat. Der älteste Weinstock der Welt, auf Slowenisch wohl weiblich, klammert sich seit 450 Jahren mit mächtigen Armen an eine unscheinbare Hauswand in Marburgs ältestem Viertel, dem Lent. Feuer, Krieg, Reblaus, alles hatte sie überlebt, bis es 1982 fast um sie geschehen wäre. Gerettet hat die Rebe Tone Zafosnik mit einem, wie er sagt „chirurgischen Schnitt“. Der ältere, stille Herr tritt bescheiden auf. Er habe jahrelang in ganz Slowenien beobachtet, wie die Weinbauern ihre Pflanzen hegen, und die Weinsorten studiert. So habe er eben „viel Erfahrung“ gesammelt, auch mit der Sorte Blauer Köllner, zu der die Wunderrebe gehört. Seitdem gedeiht der uralte Weinstock wieder und mit ihm der Tourismus. Wer nach Marburg an der Drau kommt, bestaunt das Naturwunder und besucht das neue von der Stadt eingerichtete Weinmuseum. Normalsterbliche dürfen den Wein der Wunderrebe ansehen: hinter Glas in einer kleinen Flasche. Die Stadt verschenkt Kostproben an besondere Gäste wie den damaligen US-Präsident Bill Clinton oder den Kaiser von Japan.

Drei Weinstraßen beginnen in Sloweniens zweitgrößter Stadt. Der Weinkeller der Vinag ist angeblich der größte Mitteleuropas. Auf drei Kilometern reihen sich Flaschen und Fässer unter der Erde. Darüber, auf dem Schlossplatz und in den zur Fußgängerzone aufgewerteten, kopfsteingepflasterten Altstadtgassen, genießen an den vielen lauen Sommerabenden Einheimische und Touristen in den Straßencafés, was ihre Winzer keltern. Im Winter gehen viele gleich nach der Arbeit zum Skifahren. Nur sechs Kilometer vom Zentrum locken im Pohari-Gebirge zwölf Kilometer lange Pisten. Viele davon sind nachts beleuchtet.

„Wir sind sehr offen hier, man grüßt sich auf der Straße und fragt, wie es geht“, erzählt Marinka Kosar. In Marburg an der Drau geboren und aufgewachsen, hat sie „immer hier gelebt“ und wollte auch nie weg. Sie betreibt ein Reisebüro und organisiert für auswärtige Gruppen Aufenthalte in der Region. Die fröhliche 50erin schwärmt von sozial gemischten „Stammtischen, an denen jederzeit ein Arbeitsloser und ein Anwalt einträchtig gemeinsam Fußball schauen und über Politiker schimpfen“, vom exzellenten Orchester, der Oper, dem Theater, dem einzigen Profi-Ballett Sloweniens oder der Carmina Slovenica, „einem der besten Mädchenchöre der Welt“. Tatsächlich kann sich das Kulturangebot der rund 100000-Einwohner-Stadt sehen lassen. Jedes Jahr im Juli verwandeln sich die Altstadt und das Ufer der Drau in ein riesiges Konzert- und Spektakelgelände.

Das Lent-Festival zählt zu den größten und bekanntesten Südosteuropas mit zahlreichen Konzerten, Workshops und Straßen-theateraufführungen. „Wir lassen uns in Marburg an der Drau unseren Optimismus nicht nehmen“, versichert Marinka Kosar – trotz Wirtschaftskrise und auf 20 Prozent gestiegener Arbeitslosigkeit.

Die Stadt steht zu ihrer Geschichte: Straße der Partisanen heißt nach wie vor die wichtigste Verbindung zwischen Bahnhof und Innenstadt, die vierspurige Titostraße zweigt davon ab und jenseits der alten Brücke beginnt die Straße der Revolution. Als Slowenien noch zu Jugoslawien gehörte bauten die Arbeiter in den Fabriken der Stadt Lastwagen und Busse, gossen Stahl und Eisen. Im 19. Jahrhundert hatte die Eisenbahn die ersten Industriebetriebe ins damals österreich-ungarische Marburg an der Drau gebracht. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens mussten die meisten Fabriken aufgeben.

Überall in Marburg an der Drau finden sich noch die Spuren des real existierenden Sozialismus. Direkt vor dem Schloss erinnert ein wuchtiges Siegesdenkmal an den Zweiten Weltkrieg. „Kojak“ nennen die Einheimischen die von Bronzestreifen überzogene haushohe Weltkugel, die an eine Glatze erinnert. Im ärmeren Süden der Stadt, jenseits der Drau, hat die jugoslawische Armee ein riesiges Areal mit Schuppen und Hallen hinterlassen.

Junge Leute besetzten 1994 die ehemalige Brotfabrik der Militärs. „Pekarna“, Bäckerei, heißt das autonome Kulturzentrum mit Kneipe, Büros, Club, Konzertsaal und Übungsräumen für Bands in den bunt besprühten, ehemaligen Armeebauten. Die chronisch klamme Stadt, der das Gelände inzwischen gehört, kommt mit dem Renovieren der altersschwachen Gebäude kaum hinterher. Robert B. Fishman

Unter dem Motto „Pure Energy“ trägt Marburg an der Drau zusammen mit den Nachbarstädten Ptuj, Velenje, Muska Sobota, Novo Mesto und Slovenij Gradec im kommenden Jahr den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2012.


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