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08.10.11 / Von Russland nach Königsberg / Juden zog es nach Ostpreußen, wo der Handel blühte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-11 vom 08. Oktober 2011

Von Russland nach Königsberg
Juden zog es nach Ostpreußen, wo der Handel blühte

Im „Dreiländereck“ zwischen Polen, Litauen und dem heute zu Russland gehörenden Gebiet um Königsberg lebten bis 1940/41 auf preußisch-deutscher und litauischer Seite außer Deutschen und Litauern auch Polen, Russen, Roma und Litvaks, litauische Juden. Letztere siedelten seit Ende des 14. Jahrhunderts im Gebiet der unteren Memel und weiter südlich entlang der ostpreußisch-litauischen Grenze. Nach dem Erlass des Toleranzedikts von 1812 etablierten sich Litvaks und Juden aus Westpreußen vermehrt in Ostpreußen, erwarben Staatsbürgerrechte und gründeten Gemeinden. Im östlichen Grenzland ließen sie sich vor allem in den kleinen Städten nieder. Die Juden begriffen diesen Lebensraum als Chance, da sie als Kaufleute und Makler mehrsprachig und mobil waren sowie über Netzwerke verfügten. Ihr Tätigkeitsbereich war der grenzüberschreitende Handel, insbesondere der Holzhandel. Ihre Rolle wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts zurückgedrängt, als mehr Akteure von der Grenze profitierten. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg mit Juden gegen Juden. Die Grenze verschob sich nach Westen, die Grenzkultur war zerstört.

Die Geschichte einer Grenze unter dem Blickwinkel der jüdischen Bevölkerung ist ein neuartiger Ansatz, um über Phänomene wie Zu- und Auswanderung, Transnationalität, Vielvölkergemisch und Nationalismus zu forschen. Dieser weitläufigen Thematik hat sich die 1958 in Prenzlau geborene Osteuropahistorikerin Ruth Leiserowitz jahrelang gemeinsam mit ihrem Mann, dem Berliner Reiseunternehmer Michael Leiserowitz, gewidmet. Leiserowitz stammt von litauischen Juden ab, die angesehene Bürger, kaisertreu und patriotisch eingestellt waren. 2007 legte die Wissenschaftlerin ihre Habilitationsschrift über die Geschichte der Juden in der preußisch/deutsch-russisch/litauischen Grenzregion vor. Dafür hatte sie eine Fülle schriftlicher Quellen, Zeitzeugenberichte und Interviews ausgewertet. 2010 erschien die Studie in überarbeiteter Form unter dem Titel „Sabbatleuchter und Kriegerverein. Juden in der ostpreußisch-litauischen Grenzregion 1812 bis 1942“. Zugunsten der leichteren Verständlichkeit wurde der wissenschaftliche Jargon bis auf das unvermeidliche Mindestmaß herausgefiltert. Der Verfasserin war es im System der DDR versagt geblieben ein Studium der Geschichte und Polonistik aufzunehmen. Seit 2009 ist sie stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Warschau.

Bei ihren Recherchen über das Judentum in Ostpreußen stieß sie auf eine vergleichsweise große Forschungslücke, was ebenso für alle ehemaligen deutschen Ostgebiete gilt. Noch schlechter ist der Forschungsstand auf polnischer und litauischer Seite. Leiserowitz beleuchtet in ihrem beeindruckenden Werk das jüdische Leben im Grenzraum unter verschiedenen Aspekten, indem sie die bedeutsamen Tendenzen erläutert. So eröffnete der Bau der Königlichen Ostbahn von Berlin nach Königsberg und weiter nach Eydtkuhnen ab 1850 neue wirtschaftliche Perspektiven und zog immer mehr jüdische Zuwanderer an, vor allem aus Russland. Der Schmuggel an der Grenze, ein multiethnisches Phänomen, war ein beständiger Wirtschaftsfaktor. Weitere Themen sind die Spannungen zwischen Beharren und Moderne im Schtetl, die Organisation der Auswanderung nach Amerika und Palästina sowie einzelne Lebensschicksale („Vom Hausierer zum Honoratioren“). Große Veränderungen zog der Erste Weltkrieg durch die Abtrennung des Memellands vom Reich nach sich. Es kam zu einer emotionalen Aufladung in beiden Nationalstaaten. Der grenzüberschreitende Handel brach weitgehend zusammen. Viele Juden wanderten ab. Nur in Memel lebten die Juden bis 1933 „im politischen Windschatten der deutsch-litauischen Auseinandersetzungen“. Nicht wenige verkannten die sich zuspitzende Lage seit der Macht-ergreifung Hitlers. „Die Territorialität wurde zu ihrem Schicksal“; mit diesen Worten endet die vorliegende Studie. Die Ereignisse seit den am 23. Juni 1941 genau hier einsetzenden Massenerschießungen von litauischen Juden einschließlich der Deportationen der Juden aus den Ghettos in die Konzentrationslager können bisher nur unzureichend rekonstruiert werden. Dagmar Jestrzemski

Ruth Leiserowitz: „Sabbatleuchter und Kriegerverein. Juden in der ostpreußisch-litauischen Grenzregion 1812 bis 1942“, fibre Verlag, Osnabrück 2011, broschiert, 459 Seiten, 39,80 Euro


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